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(unter versehentlicher Weglassung des Abstracts) veröffentlicht in: Störfaktor – Zeitschrift kritischer Psychologinnen und Psychologen (Wien), 8. Jg. (1995), Heft 32, Nr. 3, S. 33-44. Korrigierte Fassung / PDF

Peter Lehmann

Ohne Psychiatrie verschieden sein können?

Abstract: Die postmoderne Psychiatrie ist durch eine zunehmende Biologisierung psychischer Probleme sozialer Natur charakterisiert. Man betrachtet die Probleme als stoffwechselbedingt, bezeichnet sie blumig als multifaktoriell und schafft sich durch diese Beliebigkeit ein unerschöpfliches Reservoir an »Konsumenten« einer (pseudo-)medizinischen Behandlung; Folge sind ständig mehr Psychopharmaka, Elektroschocks sowie Behandlungs-Langzeitschäden. Um diese katastrophale Entwicklung zu vertuschen, gibt es ein pseudofortschrittliches Tamtam, so dass es immer schwerer wird, die Psychiatrie und ihre Ausweitung auf die Gemeinde als strukturelle Menschenrechtsverletzung und Vorenthaltung psychosozialer Hilfe zu verorten. Ein direkter Blick auf die Behandlungsergebnisse schafft die notwendigen neuen Eindeutigkeiten.

Moderne Psychiatrie-Entwicklung

Heiner Keupps »Ohne Angst verschieden sein können« geht auf seinen Vortrag beim Sozialpsychiatrie-Weltkongress 1994 zurück. Ich lauschte ihm dort ebensowenig wie er meinem Vortrag »Chemische Knebel, tardive Dyskinesien: die andere Seite der Sozialpsychiatrie« (Lehmann 1995) an gleicher Stelle. Hätten wir gemeinsam vorgetragen, hätte ich den Gegenpol seiner optimistischen Wertung des »sozialpsychiatrischen Projekts, das sich für das Recht auf Verschiedenheit und die Überwindung von Ausgrenzung einsetzt«, darstellen können. Gerne hätte ich seine grundsätzlich kritische Haltung zur Psychiatrie weitergeführt und auch auf die Sozialpsychiatrie angewendet. Seiner Analyse von Gesellschaft und Psychiatrie stimme ich völlig zu bis auf den Sprung, wo er Sozialpsychiatrie mit Antipsychiatrie gleichsetzt. So wie die Psychiatrie die Grenzen des Territoriums der Normalität bewacht, so ist es die Sozialpsychiatrie, die den psychiatrischen Machtanspruch durch die Einbindung ihrer KritikerInnen sichert. Die sozial- und gemeindepsychiatrische »Utopie vom Recht auf Differenz und der gesellschaftlichen Integration ohne Normalitätszwänge« verliert nämlich ihren blendenden Schimmer, wenn wir unser Hauptaugenmerk auf die praktische Umsetzung der modernen Psychiatrie richten. Dies hat mit psychiatrogenen Krankheiten zu tun, mit der Renaissance des im Faschismus entwickelten Elektroschocks, mit steigenden Zwangsunterbringungsraten sowie mit der Fortsetzung menschenrechtswidriger Behandlungspraktiken.

Was hat sich in den letzten Jahren in der Psychiatrie verändert? Die Verabreichung von psychiatrischen Psychopharmaka (Neuroleptika, Antidepressiva, Lithium) steigt stetig, und seit neuestem wird auch wieder verstärkt elektrogeschockt. Dafür sind Psychiater vorsichtiger in ihrem Formulierungen geworden, sie sorgen sich mehr ums Renommee. Sie reden jetzt mit 'ihren Patientinnen und Patienten', zumindest vor Publikum, und führen sie an der längeren Leine Gemeindepsychiatrie, streichen die Anstaltsstationen bunt und bieten mehr Beschäftigungs-, Bastel-, Mal- und Bewegungs-Tamtam. Die Tonlage wurde leiser, die PR-Arbeit (wie auch diejenige der Pharmaindustrie) vorsichtiger. Der neue Psychiater ist unauffälliger, trägt eher Turnschuhe als Lackschuhe und gibt sich – perfide genug – als Anwalt der Ausgegrenzten, wobei er noch um deren Verständnis wirbt und Zusammenarbeit fordert.

Aber es ist die Verabreichung von Psychopharmaka, die heutzutage im Zentrum der psychiatrischen Praxis steht. Die Verabreichungsdaten spiegeln die Entwicklung der Psychiatrie nüchtern wider.

Das deutsche Verordnungsspektrum der psychiatrischen Psychopharmaka ist regelmäßig im Arzneiverordnungs-Report beschrieben. Die Tendenzen sind in Österreich vermutlich ähnlich. 1993 lag in der BRD der Absatz von Neuroleptika und Antidepressiva etwa gleich hoch. Im Report stand 1994: »Die Verordnungen von Tranquillantien sind in den letzten zehn Jahren kontinuierlich zurückgegangen. (...) Umgekehrt nahmen Neuroleptika und Antidepressiva eine stetige entgegengesetzte Entwicklung, die durch die Verordnungen aus den neuen Bundesländern noch deutlicher wurde. « (Lohse & Müller-Oerlinghausen 1994, S. 358/360)

Bei Anwendungen von Neuroleptika ('Antipsychotika') kristallisierten sich in den letzten Jahren international deutliche Trends heraus (Lehmann 1996a):

  • Höhere Dosierungen. Studien weisen von 1973 bis 1985 eine Steigerung der täglichen Verordnungsdosis in Anstalten um 100 % nach. Identische Zahlen für denselben Zeitraum liegen für die gemeindepsychiatrische Verabreichung vor. Laut Finzen (1990) hat sich in der BRD die Durchschnittsdosis der Neuroleptika seit 1970 gar verzehnfacht (s. Eichenbrenner 1990). Gestiegen sind auch die Dosierungsempfehlungen in psychiatrischen Lehrbüchern, wie der deutsche Psychiater Hartmut Berger mitteilte: Sei in den Jahren 1969 bzw. 1974 von einer durchschnittlichen Tagesdosis in Höhe von 3 bis 7 mg Haldol die Rede gewesen, betrug die empfohlene Tagesdosis 1990 bereits 43 mg (Berger 1990).
  • Systematische Hochdosierung. Laut Finzen hat sie in den letzten Jahren unter den Bezeichnungen »adäquate individuelle Dosierung« und »schnelle Neuroleptisierung« erheblich an Bedeutung gewonnen, sie eigne sich für anders nicht beeinflussbare schwere und hartnäckige psychotische Symptome.
  • Immer potentere Neuroleptika
  • Ständig höhere Mengen hochpotenter Neuroleptika
  • Mehr Depotmittel, die nebenbei auch teuer und damit umsatzsteigernd seien, zudem eine »wichtige taktische Erweiterung der Behandlungsmöglichkeiten«. Finzen erläuterte 1990 in seinem Psychopharmaka-Lehrbuch weitere Vorteile dieser Verabreichungsform: »Wegen der Hartnäckigkeit der manischen Symptomatik und der Notwendigkeit, hochdosierte Neuroleptika über längere Zeit zu verabreichen, kann eine Depot-Medikation sinnvoll sein. Sie sichert die Medikamenteneinnahme und macht den Umgang mit dem Patienten einfacher, indem sie ihm und seinen Therapeuten den täglichen Kampf über die Frage 'Medikamente ja oder nein?' erspart.« (Finzen 1990, S. 131)
  • Standardisierte Verabreichungen. Diese betreffen nicht nur die Dosishöhe (Standarddosis für alle), sondern auch die Auswahl an Neuroleptika. Finzen empfiehlt seinen Kollegen die Beschränkung auf 3 Neuroleptika: ein hoch-, ein niederpotentes und ein Depot-Neuroleptikum.
  • Steigende Zahl von Mehrfachkombinationen unterschiedlicher Neuroleptika
  • Immer längere Verabreichung. Unter dem Titel »Ohne Depot-Neuroleptika geht es kaum« war 1988 in Selecta der herrschende psychiatrische Standpunkt nachzulesen, der auf dem Symposium »Depotneuroleptika – ein Konsensus« in Antwerpen 1987 formuliert worden war: »Es ist leider eine Tatsache, dass die Schizophrenie eine lebenslang andauernde Erhaltungstherapie mit Neuroleptika braucht.« (Irdis 1988, S. 1480) Dieser Auffassung sind auch die Vertreter der Gemeindepsychiatrie, wie in demselben Artikel nachzulesen ist: »Sozialpsychiatrie außerhalb der Kliniken ist ohne Depot-Neuroleptika nicht durchführbar.« (ebd., S. 1483) Sponsor des Kongresses war die Firma Janssen, Hersteller einiger Depotneuroleptika.

Der mit dem Ausbau der Gemeindepsychiatrie und einer Zunahme der Zahl niedergelassener Psychiater verbundene Anstieg der Zwangsunterbringungen, den der Bremer Medizinsoziologe und Psychiater Georg Bruns 1993 in seinem Buch »Ordnungsmacht Psychiatrie?« nachwies, dürfte den Anstieg der Verabreichungsmengen von Psychopharmaka beschleunigen. Dass die internationale Gemeindepsychiatrie – die österreichische wie die deutsche oder italienische – auf der Basis von neuroleptischen Depotpräparaten basiert, war schon Thema im Störfaktor (3. Jg., 1989, Heft 9/10, S. 6ff.) und anderer Stelle (Lehmann & Stastny & Weitz 1993, S. 454ff.). So genau wie niemand zuvor befasste sich Bruns mit den weiteren Konsequenzen der Ausweitung der Psychiatrie, als er formulierte:

»Die sozialpsychiatrischen Dienste (Spsd) mit dem in verschiedenen Fragen speziell ihnen erteilten Auftrag, die Bestimmungen eines PsychKGs ('Psychisch-Kranken'-Gesetze) auszufüllen, suchen selbst und werden von anderen Diensten dazu gebracht, das ihnen zur Verfügung stehende Instrumentarium auch anzuwenden und auf diese Art und Weise ein 'Zwangseinweisungsklientel' zu schaffen – ein Prozess der existentiellen Selbstrechtfertigung dieser Dienste, die, sind sie einmal installiert, von den in ihnen Tätigen mit Zähnen und Klauen verteidigt werden, handelt es sich doch großenteils um Angehörige von Berufsgruppen, die schlecht definierte Arbeitsfelder besitzen und einem hohen Risiko der Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind (von 10,5 Planstellen eines Stadtteil-SpsD in Bremen sind vier für Sozialarbeiter und eine für Psychologen vorgesehen). Die institutionelle Selbstrechtfertigung der Dienste und die Notwendigkeit der materiellen Reproduktion der in ihnen Tätigen koinzidieren und verbinden sich zu einem vermutlich weitgehend unbewussten dynamischen Motiv, 'schwere Fälle' in Form von Zwangseinweisungen zu produzieren.« (Bruns 1993, S. 110)

Zu allem Überfluss werben Psychiater und ihre journalistische Lobby seit Jahren penetrant für eine gesteigerte – mit kosmetischen Korrekturen geschönte – Schockverabreichung. »Viel zu selten« wird nach Hans Lauter, einem der Protagonisten dieser Methode, der Elektroschock verabreicht. 96 % der leitenden Psychiater in deutschen Universitätsanstalten sind für Elektroschocks. Reimer äußerte 1988 gegenüber der Münchner Illustrierten:

»Ich hoffe, dass bald alle wieder schocken. In Schweden, der Schweiz, England oder Holland hat die Psychiatrie einen wesentlich höheren Standard, d.h. es wird dort sehr viel mehr geschockt als bei uns.« (zit.n. Förster 1988, S. 22)

Wie wenig unter solchen Voraussetzungen dazu gehört, als kritischer Psychiater zu gelten, wird an dem sozialpsychiatrischen Utopisten Klaus Dörner von der Anstalt Gütersloh deutlich: Gemeinsam mit der Psychologin Ursula Plog beschränkt er sich darauf, den Vollzug des Elektroschocks zu lehren (Dörner & Plog 1992, S. 545f.), setzt ihn persönlich aber momentan nicht ein – unter dem Vorbehalt, dass

»... morgen ein Tag kommen kann, der mich einem Patienten begegnen lässt, bei dem ich die Indikation für die Elektrokrampftherapie befürworte.« (Dörner 1994, S. 32)

Sozialpsychiatrische Orte

Natürlich braucht es für all die psychopharmakologisch ruhiggestellten und künstlich zu Gehirnkranken gemachten Psychiatriebetroffenen ein 'betreutes Wohnfeld' mit einem Riesenheer von Wach- und Betreuungspersonal, da sie alleine nicht mehr lebensfähig sind und mit ihren vielfältigen extrapyramidalen Störungen für ihre Familien oft nicht mehr erträglich sind. Doch die Fortsetzung der Anstaltsbehandlung in der Gemeinde, für wen ist diese erstrebenswert außer für die Pharmamultis und für solcherart Ärzte, die mit der Behandlung selbsterzeugter, psychopharmakogener Krankheiten den wachsenden Konkurrenzkampf in ihrer Berufsgruppe überleben wollen? Was sozialpsychiatrisch bestimmtes Wohnen bedeutet, wurde anhand einer 1991 im Nervenarzt veröffentlichten Studie über eine Stichprobe gemeindepsychiatrisch behandelter und z.T. in 'betreutem' Einzelwohnen oder 'therapeutischen' Wohngemeinschaften lebender Berliner deutlich. Die Autorengruppe um den Psychologen Wolfgang Kaiser ermittelte eine Häufigkeitsrate von 59 % tardiver Dyskinesien: Von den untersuchten 'Betreuten' wurden 265 von niedergelassenen Nervenärzten behandelt und verließen deren Praxen mit einer 96,2%igen Wahrscheinlichkeit unter Neuroleptika-Einfluss; die Institutsambulanz der Nervenklinik Berlin-Spandau verabschiedete ihre 108 Stichproben in 94 % aller Fälle mit Neuroleptika. Ergebnis: 21 % der 'langzeitbetreuten psychisch Kranken' entwickelten eine tardive Dyskinesie leichter Form, 18 % dieselbe Erkrankung in mittlerer und 20 % gar in schwerer Ausprägung (vgl. Lehmann & Stastny & Weitz 1993, S. 452).

Am folgenden Beispiel einer tardiven Dyskinesie wird deren Gefährlichkeit und Unbehandelbarkeit ebenso deutlich wie die psychiatrische Notwendigkeit, zur – zumindest kurzfristigen – Unterdrückung der psychiatrogenen Schäden wieder verstärkt Elektroschocks und stereotaktische Eingriffe anzuwenden. Kashinath Yadalam und Kollegen vom Eastern Pennsylvania Psychiatric Institute in Philadelphia beschrieben 1990 im Journal of Clinical Psychiatry, wie man der tardiven Dyskinesie eines 31jährigen Mannes zu Leibe rücken wollte:

»Herrn D.s Bewegungsstörung, die 1982 nach einer einjährigen Behandlung mit Tiotixen (Navane, Orbinamon) 20 mg/Tag begann, war durch dystonische (durch Muskelkrämpfe gekennzeichnete) Bewegungen seines Halses, Rumpfes und seiner Schultern charakterisiert. Diese Bewegungen nahmen nach Absetzen der antipsychotischen Medikation zu, auch im Laufe der anschließenden Jahre. Man versuchte, Herrn D.s psychiatrische Symptome und die dystonischen Bewegungen mit Lithium und Anxiolytika (angstunterdrückenden Substanzen, z.B. Tranquilizern) zu kontrollieren, obwohl man zeitweise 1 oder 2 mg Haloperidol benutzte. Allmählich behinderten ihn seine Bewegungen vollständig. Wegen dieser Schwierigkeiten begann er, beim Gehen für seinen Hinterkopf an der Wand Halt zu suchen; dabei verursachte die Reibung an der linken Seite des Kopfes einen kahlen Fleck. Lag er flach auf dem Rücken, bewegte sich Herrn D.s Hals unwillkürlich in eine beliebige Richtung. Zur Erleichterung legte er sich flach auf den Fußboden, während sein Vater ein Kissen auf Herrn D.s Kopfseite breitete und seinen Fuß darauf stellte. Herr D. konnte nicht laufen, auch keine Treppe hochgehen, daher kam er im Rollstuhl zur Klinik. Andererseits, wenn er zu Hause blieb, verbrachte er die meiste Zeit in einem chirurgischen Bett. Da die dystonischen Bewegungen nach und nach Herrn D.s gesamten Körper einschließlich Axis (Halswirbel) und Gliedmaßen erfassten, sprach sich ein Neurochirurg für eine bilaterale Thalamotomie (beidseitige stereotaktische Elektrokoagulation [Gewebszerstörung mittels Elektroden] spezieller Teile des Thalamus) aus. Das Verfahren eliminierte die dystonischen Bewegungen komplett, hinterließ aber eine leicht ausgeprägte undeutliche Aussprache, die im Lauf der Zeit geringer wurde. Ein paar Monate später wurde Herr B. psychotisch, erlebte einen ausgeprägten Beziehungswahn, akustische Halluzinationen und einen kurzzeitigen Wahn, die Chirurgen hätten ihm Elektroden in den Kopf plaziert, mit denen andere seine Gedanken lesen könnten. Lithium alleine oder kombiniert mit Carbamazepin (Calepsin, Finlepsin, Neurotop, Sirtal, Tegretal, Tegretol, Timonil) schlug nicht an. Die Behandlung mit Mesoridazin 200 mg/Tag eliminierte alle psychotischen Symptome; Herrn D.s Bewegungen sind bis dahin nicht zurückgekehrt. Ein Jahr nach der Thalamotomie wurde Herr D. wegen einer depressiven Episode hospitalisiert, die sich mit einer EKT-(Elektroschock-)Serie behandeln ließ.« (zit.n. Lehmann 1996b)

An tardiver Dyskinesie litten nach Berechnungen des englischen Psychologen David Hill 1985 weltweit bereits 38,5 Millionen Menschen irreversibel. 1992 meldete sich Hill im Clinical Psychology Forum mit neuen Hochrechnungen erneut zu Wort:

»Man hat geschätzt, dass zwischen 1954 und 1970 weltweit 250 Millionen Menschen Neuroleptika verabreicht bekamen. Mit Sicherheit scheint man nach den vergangenen 22 Jahren von einer Verdoppelung dieser Zahl ausgehen zu können. Die zurückhaltendste Schätzung (25,7 %) – sie ignoriert die milderen Symptome und die kaschierende Wirkung – legt nahe, dass ungefähr 128,5 Millionen Menschen bisher an tardiver Dyskinesie litten. Bei annähernd 86 Millionen davon sind die Symptome, die von peinlichen Mundbewegungen bis zu entkräftenden Schüttelbewegungen der Extremitäten reichen, irreversibel.« (S. 35)

Sozialpsychiatrische Utopisten

Nicht nur die Vergangenheit der Sozialpsychiatrie, die im Faschismus in der Katastrophe endete (Lehmann 1992), ist dazu geeignet, die Skepsis gegenüber der Sozialpsychiatrie zu verstärken, auch die moderne Praxis gibt wenig Anlass zu Optimismus. Als es Ende der 80er Jahre in der Deutschen Gesellschaft für Sozialpsychiatrie (DGSP) um die Finanzierung eines internationalen Neuroleptika-Tribunals ging, auf dem medienwirksam Neuroleptika-Kritiker wie Peter Breggin, David Hill, Anders Kelstrup, Lars Martensson, Hubertus Rolshoven, Marc Rufer, Thomas Szasz und Josef Zehentbauer zu Wort kommen sollten, verfügte die DGSP-Leitung am 24. November 1989 (Protokollführer: Klaus Dörner):

»Der Erweiterte Vorstand beschließt, dass keine isolierte Tagung zu diesem Thema stattfindet. An die Stelle tritt ein Prozess über die nächsten Jahre, in denen wir in unterschiedlichen Kontexten den Aspekt der Neuroleptika immer mit einbringen, so wie dies ohnehin schon auf der Jahrestagung 1989 und auf der Tagung der Westfälischen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie in Hemer der Fall ist. (Protokollant: Die Universitätspsychiatrie hat jetzt schon 20 Jahre lang vorgemacht, was dabei herauskommt, wenn man sich isoliert mit Neuroleptika beschäftigt, positiv und negativ; die DGSP ist nach wie vor schwerpunktmäßig, wie der Name schon sagt, für das Soziale zuständig, dessen Förderung die technischen Probleme der Anwendung von Psychopharmaka einerseits und der Psychotherapie andererseits vereinfacht.)« (zit.n. Lehmann 1990, S. 9)

Sozialpsychiatrie soll also die technischen Probleme der Anwendung von Psychopharmaka vereinfachen. Nachdenklichkeit, kritische Reflektion, Umdenken oder Utopie (im eigentlichen Sinne eines entfernten Wunschzieles) ist hieraus nicht herauszulesen. Und von wegen immer wieder einbringen: Auf dem Sozialpsychiatrie-Weltkongress 1994 beispielsweise zeichneten sich die anwesenden Psychiater in bezug auf Neuroleptikaschäden und die Renaissance des hirnzellzerstörenden Elektroschocks nur durch eines aus: Schweigen.

Ende oder Beginn moderner Eindeutigkeiten?

Damit sind wir nicht am Ende, sondern am Beginn moderner Eindeutigkeiten. Der Kurs der modernen Psychiatrie ist eindeutig. Nach Meinung des kritischen US-amerikanischen Psychiaters Peter Breggin ähnelt die aktuelle Entwicklung der vor dem Zweiten Weltkrieg:

»Derzeit erlebt zum Beispiel der Elektroschock weltweit eine Renaissance. Wir haben Medikamente entwickelt, die weit giftiger sind als jene, die vor dem Krieg eingesetzt wurden. (...) Die moderne Psychiatrie unterscheidet sich grundsätzlich nicht von der Vorkriegspsychiatrie, die zum Holocaust führte.« (Breggin 1993, S. 396)

Diese verheerende Situation ändern zu wollen, setzt voraus, sie zuerst einmal einzugestehen.

Der Verweis auf Dia-, Tria- und Tetraloge, also Gespräche zwischen Psychiatriebetroffenen und Psychiatern, Angehörigen bzw. Bürgerhelfern ist gut. Doch von welcher Qualität ist eine Kommunikation, wie sie beispielsweise bei der Bundesdirektorenkonferenz 1995 in der Bielefelder Anstalt Bethel unter dem Motto »Die Bedeutung der Kooperation mit Angehörigen und Patienten (Psychiatrie-Erfahrenen) für die Arbeit des Psychiatrischen Krankenhauses« stattfand? Dort wurden zwar Psychiatriebetroffene auf das Podium eingeladen; Podiumsbeiträge zu den zentralen Themen (Neuroleptika, Elektroschocks, Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung) durften aber nur die psychiatrisch Tätigen halten. Und was soll die Einbeziehung organisierter, von Pharmamultis unterstützter Angehörigenorganisationen, wenn zentrale Menschenrechtsfragen wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Unantastbarkeit der Menschenwürde, Recht auf Freiheit und fairen Prozess keine Themen sind? Vom Recht, trotz Nichtverstandenwerdens dennoch Toleranz oder Unterstützung zu erhalten (Kempker 1991), ganz zu schweigen? Sind Zuhörenlernen und Förderung von Dialogen wirklich der zentrale Sinn der 'Empowerment'-Perspektive?

Zuhörenlernen sollte selbstverständlich sein. Unter Empowerment verstehe ich aber im Gegensatz zu Heiner Keupp etwas ganz anderes. Auf dem Weg zur »Rückgewinnung der Selbstbestimmung«, wie ich diesen Begriff übersetzen würde, kann Dialog und Verständnis notwendig sein, es geht allerdings um mehr. Gemeinsam mit anderen Psychiatrie-Betroffenen entwickelte die US-amerikanische Psychiatriebetroffene Judi Chamberlin folgende sinnvolle Kriterien von Empowerment:

»Entscheidungsmacht haben; Zugang zu Informationen und Finanzmitteln haben; ein Spektrum an Wahlmöglichkeiten haben (nicht bloß 'ja/nein' und 'entweder/oder'); Entschlossenheit besitzen; das Gefühl haben, dass der/die Einzelne etwas ändern kann (Hoffnung haben); kritisches Denken lernen, gedankenloses Reagieren verlernen, Dinge differenziert betrachten, zum Beispiel mit der eigenen Stimme sprechen, die eigene Identität und die eigenen Möglichkeiten und das Verhältnis zu institutionalisierter Macht neu definieren; Wut lernen, ihr Ausdruck verleihen...« (Chamberlin 1993, S. 317)

Solange die sozialpsychiatrische Praxis noch so weit von einer Orientierung an der Selbstbestimmung entfernt ist (als Skeptiker traue ich den im Zentrum der Sozialpsychiatrie Stehenden diese Orientierung nicht zu), ist die Gefahr offensichtlich, dass durch freundschaftliches Schulterklopfen die Trennung in krank und gesund zementiert und die kooperationsfreudigen Psychiatriebetroffenen in Dia- und Trialogen einmal mehr ausgebeutet werden, wie auch in den in Mode kommenden sogenannten Psychoseseminaren, in denen sie unbezahlt an Universitäten oder anderen Lehrstätten über ihre inneren Erlebnisse während verrückter Zustände referieren: mentale Peep-Shows für Psycho-Spanner?

Aber vielleicht irre ich mich ja auch, und die vielen durch die Erfahrungsberichte und Leidensgeschichten Psychiatriebetroffener beeindruckten Sozialpsychiater stehen an künftigen Rednerpulten schon jetzt Schlange, um auch mal ihre inneren Höllen rednerisch nach außen zu kehren, sich für diagnoseunabhängige Menschenrechte und vor allem für die Umleitung von Geldern der Anstalts- und Gemeindepsychiatrie in ein neues, bisher nicht finanziertes System nichtpsychiatrischer und nutzerkontrollierter Hilfeleistung für Menschen in psychosozialer Not einzusetzen.

Quellen


© by Peter Lehmann, Berlin 1995