FAPI-Nachrichten – Das Internet-Magazin für antipsychiatrische Rezensionen. L-O


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zuletzt aktualisiert am 28. August 2023

Florian Langegger: Doktor, Tod und Teufel – Vom Wahnsinn und von der Psychiatrie in einer vernünftigen Welt
Der Autor, Psychiater in Zürich, hat dieses Buch über die Parallelen von Psychiatrie und Hölle, von Wahnsinn und Tod vor zwanzig Jahren geschrieben und jetzt (2003) aktualisiert. Mit Blick auf die "chronisch psychisch Kranken" entdeckt Langegger in den überlieferten Bildern und Geschichten unterschiedlicher Kulturen und Epochen eine "alte und tiefe Verwandtschaft von Psychiatrie und Unterwelt". Es hat etwas Rührendes, wie einer seine Zunft nicht kritisieren will und es dann doch und immer mehr tun muss. Gut geschrieben, zeitlos, tiefgründig, nur gelegentlich antiquiert (z. B. in Sachen Antipsychiatrie). Kartoniert, 333 Seiten, 19 schwarz-weiße Abbildungen, ISBN 3-901409-53-X. Linz: Edition pro mente, überarbeitete Neuauflage 2003. € 18.–
Kerstin Kempker

Arnhild Lauveng: Morgen bin ich ein Löwe – Wie ich die Schizophrenie besiegte
Buch einer "krankheitseinsichtigen", inzwischen als Psychologin arbeitenden ehemaligen "Schizophrenen", in der diese ihre Erfahrungen mit ihren verrückten Gedanken, Bildern und Stimmen sowie die fast zehn Jahre währenden entwürdigenden und diskriminierenden Behandlung in der Psychiatrie bis hin zu ihrer völligen Wiederherstellung und Arbeitsfähigkeit beschreibt, allerdings – anders als etwas Dorothea Buck in "Auf der Spur des Morgensterns" oder Kerstin Kempker in Mitgift – Notizen vom Verschwinden – der Versuchung erliegt, verallgemeinernde Behandlungsratschläge zu erteilen, d.h. über die Köpfe anderer Betroffener hinweg Aussagen über deren Bedürfnisse zu treffen Gebunden mit Schutzumschlag, 221 Seiten, ISBN 978-3-442-75206-5. München: btb Verlag 2008. € 17.95
Peter Lehmann

Peter Lehmann: Der chemische Knebel – Warum Psychiater Neuroleptika verabreichen
Geloben Sie, niemals einen anderen Menschen verrückt zu nennen. "Lesen Sie dieses Buch, werfen Sie Ihre Psychopharmaka weg, verlassen Sie Ihren Psychiater und geloben Sie, niemals einen anderen Menschen 'verrückt' zu nennen außer in liebevollem Scherz", so Jeffrey M. Masson, der ehemalige Direktor der Sigmund-Freud-Archivs (Washington) über Peter Lehmanns "Chemischen Knebel". Nirgendwo sonst spürt man so deutlich wie das Herrschaftswissen der Psychiatrie enteignet und von einer neuen – radikal antipsychiatrischen – Souveränität angeeignet wird. Dabei ist von besonderer Ironie, dass nahezu sämtliche Aussagen des Buches auf (zum Teil unveröffentlichten) Untersuchungen von Psychiatern und Psychopharmaka-Herstellern beruhen. Peter Lehmanns Buch ist ein notwendiges, aber auch ein trauriges Buch, ein Buch, das für Laien und Fachleute zur Pflichtlektüre erklärt werden sollte. Im deutschen Sprachraum, ja sogar weltweit, fehlte bis zum Erscheinen dieses Klassikers der Antipsychiatrie ein Buch mit dieser Fülle von verständlich dargestellten Informationen zur Wirkung von Neuroleptika und Elektroschocks. Zur Wirkungsweise neuerer und im "Knebel" noch nicht beachteter Psychopharmaka hat sich Peter Lehmann ausführlich in seinem zweibändigen Werk "Schöne neue Psychiatrie" geäußert – wer auf die Radikalität des Perspektivenwechsels nicht verzichten will, liegt mit dem "Knebel" dennoch richtig. Kartoniert, XVIII + 428 Seiten, 180 Abbildungen, ISBN 978-3-925931-31-4. Berlin / Eugene / Shrewsbury: Antipsychiatrieverlag, 6. Auflage 2010. € 22.90
Benjamin Sage

Peter Lehmann: Schöne neue Psychiatrie

  • Kompendium des unerwünschten Wissens. Im neutralen Jargon von Beipackzetteln und sogenannten "Krankengeschichten" lassen sich die "Wirkungen" von Psychopharmaka wesentlich besser verpacken und ertragen als im ungeschminkten Klartext oder am eigenen Körper. "Bis zwölf Uhr fühlte ich keine subjektive Änderung, dann hatte ich den Eindruck, schwächer zu werden und zu sterben. Es war sehr angsterregend und quälend. (...) Um dreizehn Uhr fühlte ich mich unfähig, mich über irgend etwas aufzuregen." In diesen Sätzen dokumentierte die Psychiaterin Cornelia Quarti am 9. November 1951 ihren ersten Selbstversuch mit Chlorpromazin – jener Substanz, mit der die psychiatrische Praxis zu Beginn der 1950er-Jahre revolutioniert worden ist. In der Folgezeit wurde es mit wachsender Begeisterung der Psychiater als Mittel gegen "Schizophrenien" eingesetzt. Peter Lehmann hat das bedeutende Verdienst, dass er mit seinen Büchern den fachchinesischen Begriffsdschungel im Umfeld der Psychopharmakabehandlungen für medizinische Laien – also auch für Psychiatriebetroffene und ihre Angehörigen – durchschaubarer macht. Das ausgebreitete Themenspektrum umfasst unter anderem die Risiken der neu entwickelten Psychopharmaka, die Wirkungsweise und schädlichen Wirkungen von Antidepressiva, Psychostimulanzien und Tranquilizern. Dargestellt wird die Wirkungsweise der (modifizierten) Elektroschocks. Ein großes Kapitel behandelt Entzugserscheinungen und die Möglichkeiten, diese Symptome zu lindern und der Rückfallgefahr vorzubeugen. Ein komfortables Register und eine Liste mit allen deutschen, österreichischen und schweizerischen Markennamen machen dieses Handbuch als Nachschlagewerk unentbehrlich.
    Sophie Blau

  • Was Industrie, Psychiater und Ärzte nicht so gern dazusagen – ein Handbuch. Unter den radikalen Psychopharmaka-Kritikern ist Peter Lehmann als Nicht-Pharmakologe, Nicht-Chemiker, Nicht-Arzt gewiss der kompetenteste. In jedem Fall ist er, auch im Vergleich zu den Fachleuten, der belesenste: 1100 Verweise auf Fachliteratur im ersten Band, 1677 im zweiten suchen ihresgleichen. Nirgendwo sonst sind so viele Informationen über unerwünschte Wirkungen von Psychopharmaka aller Art, insbesondere aber von Neuroleptika, zusammengetragen. Dieses Buch ist notwendiges Gegengift zu der weitestgehend stillschweigenden und kritiklosen Praxis der Vergabe von psychopharmakologischen Substanzen in unserer Gesellschaft.
    Benjamin Sage

Kartoniert, 2 Bände, zusammen 944 Seiten und 89 Abbildungen, ISBN 978-3-925931-11-6. Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag 1996

Peter Lehmann: Psychopharmaka absetzen – Erfolgreiches Absetzen von Neuroleptika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Ritalin und Tranquilizern

  • Ein kluges und hilfreiches Buch. Wer meint, Lehmann würde zum Wegwerfen von Psychopharmaka aufrufen oder billige Patentrezepte zum Absetzen veröffentlichen, sieht sich getäuscht. Patentrezepte werden hier ausdrücklich zurückgewiesen. Auf individuell völlig unterschiedliche Weise haben die 28 psychiatriebetroffenen AutorInnen aus verschiedenen europäischen Ländern, aber auch Neuseeland und den USA teils problemlos und teils mit Schwierigkeiten ihre Psychopharmaka nach mitunter jahrzehntelanger Einnahme abgesetzt. Professionelle Hilfe war dabei äußerst spärlich. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Herausgeber im deutschsprachigen Raum eine Handvoll Psychiater, Ärzte, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter und Heilpraktiker gefunden hat, die ergänzend berichten, wie sie beim Absetzen helfen. Dieses Buch sollte auch als Aufruf an die Professionellen der Psychiatrie verstanden werden, der strukturellen "unterlassenen Hilfeleistung" ins Auge zu sehen. Es bietet Betroffenen und Professionellen die Möglichkeit, ihr Verständnis der Problematik zu vertiefen und vermag es, wichtige Orientierungen für das Absetzen zu vermitteln.
    Benjamin Sage

  • Warnung vor Verharmlosungen. "Psychopharmaka Absetzen" legt den Leser nicht auf die Perspektive einer Experten-Gruppe fest, sondern stellt beispielsweise die Perspektive von Nutzern und Psychiatrieopfern neben die kritischer Ärzte. Meinem Vorgänger (Arx Michael) bei der Rezension von "Psychopharmaka Absetzen" kann ich bezüglich der Qualitäten des Werkes nur zustimmen, mit seiner Rezension bin ich dennoch nicht einverstanden. Denn nebenbei verharmlost er das unter dem Namen "Temesta" vertriebene Benzodiazepin Lorazepam als "nebenwirkungsfreie Alternative", die lediglich "suchtgefährdend" sei. Die im "Arzneimittelkompendium der Schweiz", einem der deutschen Roten Liste vergleichbarem Werk beschriebenen Nebenwirkungen rechtfertigen die Klassifizierung als "nebenwirkungsfrei" keineswegs. Unter unerwünschten Wirkungen werden hier u.a. Angst, Aggressivität, Wahnvorstellung, Manie, Halluzinationen, Psychosen etc... aufgezählt. Verwirrtheit, Depression und manifeste Depression gelten als häufige unerwünschte Wirkungen, die in 1-10 % der Fälle auftreten können. Wer das Suchtpotential des Präparates für eine zu vernachlässigende Größe hält kann sich hier schnell eines besseren belehren lassen. Zu den genannten Entzugssymptomen, die besonders bei abruptem Absetzen auftreten können, gehören (um nur einige zu nennen): Tremor, Verwirrtheit, Depression, Angst, Kopfschmerz, Realitätsverlust, Taubheit der Extremitäten, Erbrechen, Halluzinationen, Panikattacken, zerebrale Krampfanfälle u.v.m. (Vgl. http://www.kompendium.ch unter dem Suchwort: Temesta). Eine umfassende Darstellung der Wirkungen von Psychopharmaka, die die Hersteller im Allgemeinen nicht so gerne anführen, hat übrigens Peter Lehmann in "Schöne neue Psychiatrie" vorgelegt.
    Sophie Blau

Kartoniert, 384 Seiten, ISBN 978-3-925931-27-7. Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, 3., aktualisierte und erweiterte Auflage 2008. € 19.90

Peter Lehmann / Peter Stastny (Hg.): Statt Psychiatrie 2
Alternativen zur Psychiatrie in aller Welt ' ein mitreißender Überblick. Der Irrglaube, verrückte Zustände ließen sich nicht anders als in psychiatrischen Einrichtungen durchleben, wird hier eindrucksvoll widerlegt. Die engen Grenzen, die offizielle Rollenbilder vom "psychisch Kranken", Hilfs- und Lebenskonzepten ziehen, erweisen sich im Lichte dieses Buches als bloße Produkte menschenfeindlicher Borniertheit. Der in seiner Vielschichtigkeit spannend zu lesende Band gibt in vielen Artikeln einen detaillierten Überblick über einen alternativen Umgang mit verrückten Zuständen aller Art. In diesem äußerst vielstimmigen Projekt kommen Psychiatriebetroffene genauso zu Wort wie professionelle Vertreter der Nichtpsychiatrie, der humanistischen Antipsychiatrie und der durch systemsprengende Inhalte geprägten Reformpsychiatrie, darunter Psychologen und Psychiater und sogar Angehörigengruppen. Die Autoren sprechen mit eigener Stimme über Konzepte und Erfahrungen alternativer Hilfemöglichkeiten. Was die wirklich internationale Autorenschaft dieses Bandes eint, ist ein Menschenbild, das sich auf das Selbstbestimmungsrecht und die Menschenrechte beruft und an den Selbstheilungskräften der Menschen orientiert. Damit durchbrechen sie den Automatismus von Zwang und apathisierender Pharmako-"Therapie". Nicht zuletzt stellen sie sich so gegen den "Mainstream" einer falsch verstandenen, scheinobjektiven Wissenschaftlichkeit, deren Theoreme um so höhere Geltung beanspruchen, desto gründlicher sie jeder menschlichen Erfahrung beraubt wurden. Der vorliegende Band dagegen öffnet den Horizont für einen wirklich menschlichen Umgang mit Menschen, die in psychische Ausnahmezustände geraten. Das Spektrum der angesprochenen Gebiete ist beeindruckend. Da sind zum einen die Beiträge zu wohldurchdachten Hilfekonzepten, denen Zwangsbehandlung und "Pharmakotherapie" nicht als Teil der Lösung, sondern als zusätzliches Problem gelten. Noch wichtiger dürften aber die Berichte von Hilfeeinrichtungen wie z.B. der Soteria, Windhorse, Weglaufhaus oder der Krisenherberge in Ithaca sein, die es geschafft haben, sich als Institutionen zu etablieren, die eine humanere Realität zu verwirklichen suchen. Die guten Erfahrungen, welche in diesen Einrichtungen gemacht werden, obwohl sie sich selbst als politisch umstrittene Pilotprojekt mühsam behaupten mussten, straft die Rede von der Alternativlosigkeit des etablierten Systems aus Zwang und Nötigung Lügen. Damit ist das Spektrum dieses internationalen Überblicks jedoch längst nicht abgesteckt. In dem sorgfältig gegliederten Band finden sich darüber hinaus auch Beiträge, die sich etwa mit natürlichen Heilmethoden oder dem Stellenwert von Vorausverfügungen zum Schutz vor Zwangsbehandlung beschäftigen. Daneben stehen Essays, welche die Tragweite von Begriffen wie Empowerment oder Recovery ausloten oder die Möglichkeiten betroffenenkontrollierter Forschung untersuchen. Die Vielzahl der hier zu Wort kommenden Autoren und Positionen prädestiniert dieses Buch für die immer griffbereite Handbibliothek. Und wer den spannenden Band gleich in einem Rutsch verschlingt, kann später rasch darauf zurückgreifen, wenn es um die stets aktuellen Themen geht: Was kann ich tun, wenn ich verrückt werde? Wo finde ich vertrauenswürdige Hilfe für eine Angehörige oder Freundin in Not? Wie schütze ich mich vor Zwangsbehandlung? Was soll ich tun, wenn ich es nicht mehr ertrage, in der Psychiatrie weiterzuarbeiten? Welche Alternativen zur Psychiatrie gibt es, wie kann ich mich an deren Aufbau beteiligen? Kartoniert, 448 Seiten, ISBN 978-3-925931-38-3. Berlin / Eugene / Shrewsbury: Antipsychiatrieverlag 2007. € 24.90
Lucinda Bee

Gerhard Leibold: Sanfte Hilfen für die Seele. Wege aus der Angst – Praktischer Ratgeber für Betroffene
Überarbeitete Ausgabe des Buches von 1993 über Wirkstoffe, die die Psyche beeinflussen, ohne dass mit größeren negativen Wirkungen und Abhängigkeit gerechnet werden muss. Allerdings mit der – angesichts der bekannten Langzeitschäden von Neuroleptika, Rezeptorenveränderungen incl. – problematischen Aussage am Rande, diese Substanzen würden kein Suchtpotential enthalten, weshalb sie unter diesem Aspekt auch längere Zeit verwendet werden könnten; was ist aber mit der nachgewiesenen abhängig machenden Wirkung? Kartoniert, 173 Seiten, ISBN 978-3-0350-3028-0. Zürich: Oesch Verlag 2007. € 14.95
Peter Lehmann

Leonard Leinow / Juliana Birnbaum:   Heilen mit CBD – Das wissenschaftlich fundierte Handbuch zur medizinischen Anwendung von Cannabidiol
Leonard Leinow mit über 30 Jahren Erfahrung im Anbau, Studium und der Vermarktung von medizinischem Cannabis hat gemeinsam mit der Kulturanthropologin Juliana Birnbaum ein Buch geschrieben über die Anwendungsmöglichkeiten von Cannabidiol bei Schmerzzuständen, diversen Krankheiten sowie psychischen Problemen wie Schlaflosigkeit, Angstzuständen, Depressionen, "Schizophrenie", Stimmungs- und Essstörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Cannabidiol – kurz CBD – ist ein Bestandteil von Cannabis, nicht zu verwechseln mit Tetrahydrocannabinol (THC), einem anderen Cannabis-Wirkstoff, der im Gegensatz zu CBD eine berauschende Wirkung hat. Studien an Mensch und Tier hätten ergeben, so die US-Amerikaner Leinow und Birnbaum, dass CBD u.a. krebshemmend wirke, weiterhin gegen Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Blutarmut, Schuppenflechte, Diabetes, wechseljahrbedingte Störungen, antibakteriell, schmerzlindernd, knochenstimulierend, herz- und nervenschützend, krampflösend, antiepileptisch, antipsychotisch, gewichtsabbauend u.v.m. Sie beschreiben die verschiedenen Formen von CBD und die Genetik, Eigenschaften und Verwendungsmöglichkeiten verschiedener CBD-reicher Cannabissorten und bieten Dosierungsvorschläge an für einzelne Krankheiten, Störungen oder Problembereiche. Für Menschen mit psychiatrischen Problemen ist CBD interessant, da es Ärzte hierzulande seit 2017 auf Rezept verordnen können und einige auch tun, zum Beispiel beim Reduzieren und Absetzen von Neuroleptika als Ersatz für die toxischen Neuroleptika; auch psychische Probleme sollen so gelindert werden. Die Rechtslage wird ebenso beschrieben wie Dosierungsrichtlinien, Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, unerwünschte Wirkungen vor allem bei Hochdosierung und Maßnahmen gegen Toleranzbildung, damit keine körperliche Abhängigkeit entsteht. Das Buch ist übersichtlich gegliedert und leicht verständlich für Mediziner und Nicht-Mediziner. Da ein erheblicher Widerstand seitens der Mainstreampsychiatrie gegen den Einsatz von CBD zu erwarten ist – schließlich werden sie mit Sicherheit an ihren "alternativlosen" Neuroleptika festhalten und CBD als unwirksam und gefährlich abtun wollen, ist das Buch eine wichtig Quelle von Argumentationshilfen für den Einsatz einer schonenden Alternative zu den herkömmlichen Psychopharmaka. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 384 Seiten, ISBN 978-3-7423-1078-1. München: Riva Verlag 2019. € 16.99
Peter Lehmann

Felix Leps: Zange am Hirn. Geschichte einer Zwangserkrankung
Geschichte eines Schweizers mit Zwangsstörungen, die während einer Prüfungssituation und nach Beendigung einer Beziehung aufbrechen und als endogen (von innen heraus entstanden) verstanden werden. Jahrelange Psychotherapie und Psychopharmaka folgen Hand in Hand, für ihn und die Psychiaterin Brigitte Woggon erfolgreich. Schon zu Beginn der Behandlung hatte Felix Leps ein Psychopharmakon "als Talisman" erhalten, wie er freimütig schreibt. Wenig überraschend spielen Psychopharmaka eine wesentliche Rolle in der Behandlung, das spätere Reduzieren des hochgelobten Antidepressivums Citalopram scheiterte bislang, die ursprünglichen Symptome traten beim Absetzen leider prompt wieder auf, inzwischen nimmt der Autor zusätzlich Lithium. "Die Behandlung von Felix Leps ist ein gutes Beispiel für eine maßgeschneiderte integrative Behandlung!", schreibt Frau Woggon im Nachwort. Ein Minimum an kritischer Auseinandersetzung mit Psychotherapie unter dem Einfluss persönlichkeitsverändernder Substanzen, mit möglichen Placeboeffekten, mit sich selbst erfüllenden Prophezeiungen und mit abhängig machenden Psychopharmakawirkungen würde ich mir schon wünschen, wenigstens vom Autor selbst, ansonsten bliebe ein solches Buch eher ein Beispiel für einen maßgeschneiderten Patienten. Paperback, 229 Seiten, ISBN 978-3-86739-018-7. Bonn: BALANCE Buch + Medien Verlag 2007. € 14.90
Peter Lehmann

Marianne Leuzinger-Bohleber / Yvonne Brandl / Gerald Hüther (Hg.): ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung. Theorie, Forschung, Kontroversen
In diesem anspruchsvollen Buch aus der Reihe "Schriften des Sigmund-Freud-Instituts" wird das "Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom" als verbreitete Diagnose für auffällige Kinder aller Art und als Begründung für die drastisch steigende Vergabe von Ritalin – "psychopharmakologische Gewalt zum Zweck der Verhaltensbeeinflussung unter dem Deckmantel einer medizinischen Diagnose" – differenziert betrachtet. Fallbeispiele und Therapieberichte illustrieren verschiedene Modelle zur Entstehung, Diagnostik und Behandlung mit Schwerpunkt auf dem psychoanalytischen Modell, das ADHS als Symptom einer veränderten Kindheit sieht, nicht als Krankheit, und die ruhelosen Kinder als Individuen mit eigener biographischer und kultureller Geschichte. Kartoniert, 306 Seiten, 14 schwarz-weiße Abbildungen, 3 Tabellen, ISBN 3-525-45178-4. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. € 34.90
Kerstin Kempker

Michael Linden / Bernhard Strauß (Hg.): Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie. Erfassung, Bewältigung, Risikovermeidung
Michael Linden, Psychiater in Berlin und Erfinder der Diagnose "posttraumatische Verbitterungsstörung", und Bernhard Strauß, Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie am Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena, haben ein Buch über Risiken und Schäden von Psychotherapie herausgegeben. Es soll helfen, die Unterscheidung zwischen "Nebenwirkungen" als unvermeidlichen Begleiterscheinungen jeder Psychotherapie einerseits und Psychotherapieschäden und sogenannten Kunstfehlern andererseits zu verstehen. Letztere entstünden durch Nichtbeachtung von Grundregeln in Dialog und Beziehungsgestaltung, durch ungeeignete Methodik und Techniken, schlechte Ausbildung und Grenzüberschreitungen. Weiterhin soll man in die Lage versetzt werden, spezifische "Nebenwirkungen" verschiedener Psychotherapieverfahren zu erkennen, um Strategien zur deren Vorbeugung und Verringerung entwickeln zu können.
Das Buch ist in 13 Kapitel unterteilt: Definition und Klassifikation von Psychotherapie-Nebenwirkungen / Empirische Befunde zum Spektrum und zur Häufigkeit von unerwünschten Wirkungen, Nebenwirkungen und Risiken von Psychotherapie / Zum dialektischen Verhältnis von Haupt- und Nebenwirkungen in der Psychotherapie: "Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne" / Spezifische Nebenwirkungen von psychodynamischer Psychotherapie / Risiken und Nebenwirkungen von Verhaltenstherapie / Nebenwirkungen und unerwünschte Wirkungen von Gruppentherapien / Patientenbeschwerden über psychotherapeutische Behandlungen / Negativfolgen von Psychotherapie in der sozialmedizinischen Begutachtung / Die rechtlichen Nebenwirkungen von Psychotherapie / Nebenwirkungen von Psychotherapie bei Psychotherapeuten / Erfassung von Nebenwirkungen in der Psychotherapie / Der Therapeut als Ansatzpunkt für die Vermeidung von Psychotherapie-Nebenwirkungen / Die Ausbildung, Weiterbildung und Supervision von Psychotherapeuten unter der Risikovermeidungsperspektive.
Das Buchthema wird aus der Perspektive des Therapeuten und laut Ankündigung des Verlags auch aus der Betroffenenperspektive abgehandelt. Doch man sollte sich durch solch Worte nicht täuschen lassen: Mit Betroffenenperspektive ist bloß gemeint, dass Ärzte und Therapeuten über Beschwerden von Betroffenen berichten, diese interpretieren und so letztlich ihren "Experten"-Monolog ungestört fortsetzen. Dies führt auch dazu, dass eine Vielzahl von Psychotherapierisiken tabuisiert bleiben: Therapeuten, die sich zum Büttel der Pharmaindustrie machen, die Verabreichung psychiatrischer Psychopharmaka gutheißen und deren Risiken bagatellisieren. Diese Substanzen lösen keine Probleme, machen langfristig abhängig, können Depressionen bis hin zur Suizidalität und Psychosen auslösen, verstärken und chronifizieren. Speziell Psychiatriepatienten können das Pech haben, auf pharmafirmengesponserte psychoedukativ tätige Psychotherapeuten zu stoßen, deren Diagnostik den Blick auf die wirklichen Probleme des einzelnen Menschen in der Gesellschaft verstellt und die den Betroffenen einreden, sie bräuchten Psychopharmaka "wie der Diabetiker sein Insulin". Hilfe bei einer nachhaltigen und konstruktiven Bewältigung ihrer psychosozialen Probleme bleibt ihnen vorenthalten. Leider fehlt dieses für Psychiatriebetroffene existenzielle Kapitel in dem Buch komplett. Bei einem Buch, das von Michael Linden mit herausgegeben wird, sollte man solche kritische Themen allerdings nicht erwarten, ist er doch Preisträger der "Arbeitsgemeinschaft für Neuropharmakologie und Pharmakopsychiatrie" und ein Autor, dessen Bücher auch mal von der Pharmafirma Lilly Deutschland gesponsert werden.
Nichtsdestotrotz bietet das Buch, das offenbar nicht von der Pharmaindustrie gesponsert wurde (der Verleger des MWV verneinte dies auf Anfrage), für Profis und für Betroffene viele Informationen, beispielsweise im Kapitel "Patientenbeschwerden über psychotherapeutische Behandlungen" über den Verein "Ethik in der Psychotherapie"; Details der Schattenseite der Psychotherapie werden so sichtbar. Die Autoren dieses Kapitels erläutern unterschiedliche Beschwerdekategorien, listen Auswirkungen und Psychodynamik von Grenzverletzungen samt der rechtlichen Folgen auf.
Ein Kapitel befasst sich mit der Unterscheidung von akuten und chronischen Erkrankungen und der Abklärung von verminderter Erwerbsfähigkeit, Arbeitsunfähigkeit und Grad der Behinderung, eines mit den zivil- und strafrechtlichen Folgen von Behandlungsfehlern: Behandlungsvertrag, Aufklärungspflichten, Aktenführung und -einsicht, Vertraulichkeit und Abstinenzgebot bis zu Schadensersatzansprüchen, Beweislastumkehr, Abrechnungsbetrug, Körperverletzung und sexuellem Missbrauch.
Aber auch um ernst zu nehmende Interessen von Therapeuten geht es in dem Buch, so um die Notwendigkeit therapeutischer Selbsterfahrung und die Einschätzung der Gefahren für deren Gesundheit und Lebensqualität. Es enthält zudem Empfehlungen für die Ausbildung von Psychotherapeuten und Anregungen zur Weiterbildung und Supervision, um frühzeitig die Perspektive auf Risikovermeidung zu lenken.
Unter den Autoren des Buches befindet sich mit Michael Märtens der Co-Autor des 2002 erschienenen Buches "Therapieschäden – Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie" (Matthias Grünewald Verlag). Er beschreibt das größte Potenzial zur Verbesserung der Psychotherapie: Würde man unfruchtbare Therapien schneller erkennen oder gar nicht erst beginnen, ergebe sich hieraus eine wesentlich effektivere Verbesserung der therapeutischen Versorgung als durch die Suche nach immer effektiveren Methoden. Wie nahe liegen doch Psychotherapie und Psychopharmakabehandlung beieinander. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, XI + 199 Seiten, 1 Abbildung, 6 Tabellen, ISBN 978-3-941468-64-1. Berlin: MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2013. € 34.95
Peter Lehmann

Danuta Lipinska: Menschen mit Demenz personzentriert beraten – Dem Selbst eine Bedeutung geben
US-amerikanisch angehauchtes und mainstreamorientiertes Buch mit schwer nachvollziehbarer Struktur, in dem persönliche Anektoden oft die Argumentation ersetzen und auf Personen und Literatur aus dem angloamerikanischen Sprachraum verwiesen wird, die als bekannt vorausgesetzt werden, ohne nähere Erläuterung jedoch für Leser wie mich, die diese nicht kennen, von geringer Aussagekraft sind. Die Autorin ist christlich orientiert und verweist deshalb auch auf die Bibel als Quellenliteratur, predigt insofern von Liebe und von Respekt, von aufrechter Haltung und von froher Hoffnung geprägter Beratung. Dies ist sicher nicht das Schlechteste. Als Orientierung in einem Bereich, der (auch) von Machtinteressen, Missbrauch, Gewalt, massiver Psychopharmakavergabe und ideologischer Beeinflussung seitens Pharmafirmen und der von ihr gesponserten Gruppierungen geprägt ist, erscheint mir diese Haltung aber zu unrealistisch, insbesondere wenn es darum gehen soll, die im Zentrum einer potenziell gefährlichen Umgebung befindlichen Person mit Demenz angemessen beraten zu können. Dazu passt, dass im anhängenden Serviceteil empfohlen wird, sich interessegeleitetes Informationsmaterial von der Pharmaindustrie zu Schulungszwecken schicken zu lassen. Kartoniert, 144 Seiten, 10 Abbildungen, ISBN 978-3-456-84833-4. Bern: Hans Huber Verlag 2010. € 24.95
Peter Lehmann

Heinz-Rolf Lückert / Inge Lückert: Leben ohne Angst und Panik. Ursachen und Symptome erkennen, Therapiemöglichkeiten wählen
Die Autoren Lückert (er starb 1992) sind Psychologen mit Erfahrungen in Lehre, Forschung, Therapie und Seminararbeit und Gründer des 'Institut(s) für Aktivationstherapie'. Ausführlicher Überblick über Formen, Ursachen, Verlauf und Auswirkungen von Angst und Depression. Zentral ist das Kapitel zur kognitiven Verhaltenstherapie. Anspruchsvoll und nüchtern in Stil und Aufmachung, systematisch, mit Grafiken, Übungen, Beispielen. Psychopharmaka 'nur in Notfällen und zeitlich begrenzt', was allerdings nicht gilt bei endogener Depression, Sucht und Psychose. Adressverzeichnis äußerst mager, keine Hinweise auf Selbsthilfe- oder Betroffenengruppen. Kartoniert, 270 Seiten, 16 Abbildungen, ISBN 3-938187-16-6. Dortmund: Borgmann Media 2006. € 19.50
Kerstin Kempker

Christian Lüdke / Karin Clemens (Hg.): Vernetzte Opferhilfe. Handbuch der Psychologischen Akutintervention
Pragmatisches Buch, das Betroffenen, Angehörigen und Profis eine umfassende Orientierung gibt und Hilfe beim Versuch, wieder ein normales Alltagsleben zu führen. Kleines Manko. Das Thema "Hilfe für Opfer psychiatrischer Gewalt" wird nicht wahrgenommen, und die Verwendung psychiatrischer Psychopharmaka als therapeutische Intervention in zwei oberflächlichen Sätzen abgehandelt. Vorwort von Jan Philipp Reemtsma, Geleitwort von Andreas Maercker. Kartoniert, 524 Seiten, 25 schwarz-weiße Abbildungen, ISBN 3-89797-028-7. Bergisch Gladbach: Edition Humanistische Psychologie 2004. € 38.–
Peter Lehmann

Christian Lüdke / Karin Clemens: Kein Trauma muss für immer sein. Überfälle, Unfälle, Schicksalsschläge und das tägliche Unglück. Hilfreiche Informationen zum Verständnis und zur Bewältigung von Krisen, extrem belastenden Erfahrungen und außergewöhnlichen Lebensereignissen
Laut eigenem Anspruch führen die beiden AutorInnen "Betroffene und ihre Angehörigen ein in ein erfolgreiches Konzept, dessen nachhaltige Wirksamkeit sich auch im täglichen Einsatz bei spektakulären Überfällen, Geiselnahmen und Unfällen bewährt." Und das Buch enthält viele unproblematische und unverfängliche Ratschläge. Wer sich zudem Hilfe von Sinnsprüchen und Lebensweisheiten auch esoterischer Natur erhofft, wird hier ausgiebig bedient. Weshalb des Thema "Traumatisierung durch psychiatrische Zwangsbehandlung" vollständig ausgeklammert ist, ist recht verwunderlich, landen doch viele Traumaopfer aufgrund unverarbeiteter Traumaerlebnisse in der Psychiatrie, wo bekannterweise zum Teil massive psychiatrische Gewaltanwendung gegen Wehrlose und Hilfesuchende zur Potenzierung von Traumatisierungsprozessen führt. Mit separatem Trauma-Erfolgstagebuch. Vorwort von Andreas Maercker. Kartoniert, 192 Seiten, viele Abbildungen, ISBN 3-89797-300-6. Köln: Verlag Edition Humanistische Psychologie 2003. € 17.90
Peter Lehmann

Reinhard Lütjen: Psychosen verstehen. Modelle der Subjektorientierung und ihre Bedeutung für die Praxis
Übersicht über theoretische Modelle der Subjektorientierung (Laing, Ciompi, Mentzos, Wulff, Bock). "Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung sind nicht nur seelisch krank – die meisten gestalten aktiv ihr Leben, mit eigenen Deutungsmustern für ihre individuellen Erfahrungen. Eine Psychose kann so gesehen nicht nur zum Zusammenbruch psychischer Funktionen führen, sondern gleichzeitig auch als subjektiver Lösungs- oder Bewältigungsversuch betrachtet werden." Der sozialpsychiatrisch orientierte Autor schreibt kundig über psychiatrische Theoriemodelle, psychiatrische Menschen- und Psychosebilder und daraus resultierende Praxisansätze; allerdings bleiben von Betroffenen selbst entworfene Modelle wie z.B. das Dschungel-Modell eines Maths Jesperson oder die in "Our Own Understanding of Ourselves" gesammelte Selbstverständnisse, 1994 herausgegeben vom Europäischen Netzwerk von Psychiatriebetroffenen, außen vor, die typische Selbstbeschränkung auf sozialpsychiatrische Mainstreamliteratur. Kartoniert, 227 Seiten, ISBN : 978-3-88414-433-6. Bonn: Psychiatrie-Verlag 2007. € 19.90
Peter Lehmann

Manfred Lütz: Irre – Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde
Am 3. Dezember 2009 war ich vom WDR eingeladen zu einer einstündigen Rundfunkdiskussion mit dem katholischen Theologen und Psychiater Manfred Lütz, Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in Köln und Bestsellerautor. Zuerst sollte ich allein mit ihm über sein neues Buch "Irre" diskutieren, dann sollte noch Margret Osterfeld, psychiatriebetroffene Psychiaterin, als Dritte dazukommen. Flug und Hotel waren längst gebucht, dann erreichte mich zwei Tage vorher die Absage seitens des Journalisten, der mich eingeladen hatte. Durch das 2:1-Verhältnis könnte "eine Situation" entstehen, die dazu führen könnte, "... dass Räume geschlossen werden, wo eigentlich Räume eröffnet werden sollen." Um welche Räume es ging, die dadurch geöffnet werden sollten, indem man mir die Tür vor der Nase zuschlug, vergaß man zu erwähnen. Sie werden allerdings deutlich, wenn man das Buch von Lütz kritisch betrachtet.
Hier will Lütz auf 208 Seiten "die ganze Psychiatrie und Psychotherapie allgemeinverständlich, humorvoll und auf dem heutigen Stand der Wissenschaft" darstellen. Herausgekommen dabei ist die mal flapsige, mal urteilsfreudige Beschreibung der althergebrachten Praxis eines psychiatrischen Halbgottes in Weiß, der sich als Menschenfreund inszeniert.
Eingangs macht sich Lütz eloquent über "die Normalen" her. Adolf Hitler sei nicht etwa krank gewesen, sondern "normal, schrecklich normal". Dieter Bohlen und Paris Hilton, andere Vertreter der Normalität, könne man leider nicht behandeln, denn deren "ganz normaler Blödsinn" sei bedauerlich völlig normal. "Normopathen" nennt er diese Spezies und zeigt dabei, wie weit dieser von der Irren-Offensive der frühen 1980er-Jahre in Berlin entwickelte Begriff bereits vorgedrungen ist. [Korrektur: Ich habe die "Normopathen" des Herrn Lütz mit den "zwanghaft Normalen" der frühen Irren-Offensive verwechselt – P.L.]. Damit kann sich Lütz billig und schmerzlos Sympathien erkaufen.
Lütz plädiert für eine menschenfreundliche Psychiatrie mit "Räumen der Freiheit". Wichtig ist ihm die "Fähigkeit zum Perspektivenwechsel", die es dem Psychiater erlaube, die für den Patienten angemessenste Therapiemethode zu wählen. Offenbar besitzt er praktischerweise auch die Sicht der Betroffenen. Der Verzicht auf die Verabreichung von Psychopharmaka sei allerdings unterlassene Hilfeleistung, sagt er und lässt psychiatrische Gewalt elegant zwischen den Zeilen verschwinden. Räume verminderter Freiheit, Isolierzellen, 6:1-Übermacht, Fixiergurte und Zwangsspritzen würden auch nicht zu seinem jovialen Ton passen.
Plaudernd erklärt er den begrenzten Wert von Diagnosen und die Ideologieanfälligkeit der Psychiatrie, vergisst allerdings zu erläutern, weshalb gerade er dagegen gefeit ist. Zwar solle die biologische Sichtweise nicht die einzige sein, aber unter ihr könne man alle psychischen Phänomene betrachten, deshalb sei sie mehr oder weniger nützlich. Für ihn offenbar mehr, siehe sein Beispiel Depression: Der Therapeut müsse mit aller Autorität erklären, dass sie eine Stoffwechselerkrankung sei, die man mit großer Wahrscheinlichkeit mit Medikamenten gänzlich heilen könne. Bei der Depression und der Schizophrenie gebe es nämlich einen "bemerkenswerten Erbfaktor". Mütterliches Verhalten in familiären Konflikten in ursächlichen Zusammenhang mit der Schizophrenie zu bringen, gehöre dagegen zum Schlimmsten an seelischer Grausamkeit, was er sich ausmalen könne: "Die Schizophrenie ist im Wesentlichen eine ererbte Erkrankung. ... Mit aller Autorität, die mir als Chefarzt zu Gebote steht, erkläre ich den Eltern, dass sie nichts, aber auch gar nichts zur Entstehung der Erkrankung beigetragen haben." Genauso autoritär gebärdet sich Lütz hinsichtlich Elektroschocks, deren Segnungen Wissenschaftsjournalisten doch bitteschön unter die Leute bringen sollten, und Psychopharmaka: Antidepressiva und Neuroleptika sind (für ihn) nebenwirkungsarm, werden immer besser, machen nicht abhängig, können höchstens falsch eingesetzt werden, Neuroleptika können sogar völlige psychische Gesundheit bewirken! (Informationen über chronische Rezeptorenveränderungen, Abhängigkeit, Toleranzbildung oder die psychopharmakabedingt um durchschnittlich bis zu drei Jahrzehnte herabgesetzte Lebenserwartung suche man besser bei anderen Autoren.)
Makaber stellt sich die Kombination aus katholischem Theologen, Kabarettist und Chefarzt auch bei der Beschreibung multipler Persönlichkeiten dar. Wo Psychotherapeuten den Einfluss von schweren Traumata sehen, die die normale Schutzmöglichkeiten des Menschen außer Kraft setzen und zu psychischer Erstarrung oder Abspaltung von Wahrnehmungen und gar Aufteilung der Persönlichkeit in unterschiedliche Identitäten zwingen, lässt sich Lütz über diese "Dr. Jekyll und Mister Hydes" aus und sieht in seinem "Ärger über das inszeniert Wirkende dieser Störungen", der ihn offenbar gelegentlich überfällt, doch eher "die Frage nach der Freiheit des Patienten seiner Symptomatik gegenüber besonders dringlich" gestellt, wenn sie "dann bestimmte Störungen in Szene setzen". Zugute halten sollte man Lütz allerdings an dieser Stelle, dass er nicht auch noch die Erbsünde ins Spiel bringt.
Zuletzt macht Lütz deutlich, wo seine Skepsis gegen "die Normalen" herkommt: Sie nehmen mit ihren "alltäglichen Beschwernissen" den "wirklichen Kranken" Therapieplätze weg, benutzen Diagnosen zur Diskriminierung von Mitmenschen (statt Psychiatern die Verwendung dieser Termini zu überlassen), verteufeln wirksame Behandlungsformen, selbstverständlich "gedankenlos" und "ideologisch fehlgeleitet". Die Pharmaindustrie, deren versteckte Lobbyarbeit offenbar auch in meinem Fall prima funktioniert hat, darf sich über seine heitere Anpreisung von Psychopharmaka freuen: Räume eröffnen sich, Menschen mit psychischen Problemen auf der Suche nach Beistand betreten sie vertrauensvoll. Was sie hinter der Tür erwartet, sollen sie vorher besser so genau nicht wissen. Sonst könnten sie sich ja möglicherweise gegen Psychopharmaka und statt dessen für Therapie und Selbsthilfe entscheiden.
Rezension im BPE-Rundbrief. Rezension in Psychosoziale Umschau. Gebunden, 208 Seiten, ISBN 978-3-579-06879-4. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009. € 17.95
Peter Lehmann

Anne Lützenkirchen: Depression im Alter
Durch Unterwerfung unter die biologisch bzw. genetische Theorie der Depression und durch Ausblendung behandlungsbedingter Ursachen geprägtes Plädoyer für eine frühzeitige Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen (Sozialarbeit, Medizin, Psychotherapie und Pflege). Kartoniert. 159 Seiten, ISBN 978-3-938304-80-8. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag 2008. € 20.–
Peter Lehmann

Hans Luger: KommRum – Der andere Alltag mit Verrückten
Rezension (pdf), erschienen in: Der Eppendorfer – Zeitschrift für die Psychiatrie (Brunsbüttel), 1989. Kartoniert, 264 Seiten. Bonn: Psychiatrieverlag 1989. DM 24.80
Peter Lehmann

Lieselotte Mahler / Ina Jarchov-Jodi / Christiane Montag / Jürgen Gallinat: Das Weddinger Modell – Resilienz- und Ressourcenorientierung im klinischen Kontext
In dem Buch geht es um das sogenannte Weddinger Modell, einer von den Autorinnen und dem Autor neu verstandenen Variante psychiatrischer Behandlung in der Psychiatrischen Universitätsklinik der Berliner Charité im St.-Hedwig-Krankenhaus, dessen theoretische und praktische Grundlagen, seine Einführung und Prinzipien. Orientierung an Widerstandsfähigkeit und Ressourcen, Individualisierung von Therapie und Genesung, Multiprofessionalität gehören zu den theoretischen Grundlagen. Recovery, Empowerment, Salutogenese (Gesundheitsentstehung), bedürfnisangepasste Therapie, Trialog und Soteria geistern ebenfalls als Bezugspunkte des Modells durch das Buch. Um Ergebnisse in Bezug auf Behandlungsqualität und -folgen darzustellen, muss aber erst die weitere Entwicklung abgewartet werden, zu neu ist die Implantierung des Modells. Es geht im Buch also meist um die Formulierung von Absichten und um Schritte, den neu formulierten Ansatz in die Praxis umzusetzen – vermutlich mit der Hoffnung, dass andere psychiatrische Einrichtungen nachziehen.
Gemäß dem zugrundeliegenden Konzept sollen die Betroffenen in ihrem bisherigen Lebenszusammenhang ernst genommen werden, auch wenn sie psychiatrisch untergebracht sind. Die Effizienz vorhandener Strukturen soll durch Transparenz und Partizipation gesteigert werden. Alle Interessen, Freundschaften und Lebenszusammenhänge der Betroffenen sollen ausdrücklich erhalten bleiben und sogar die Basis für die psychiatrische Behandlung sein. Patienten sollen Krankheitsverständnis und Bewältigungsstrategien entwickeln, in Therapieentscheidungen eingebunden werden, Transparenz und Partnerschaftlichkeit soll gegeben sein. Ambulant gehe vor stationär; Teil des stationären Reformangebots sei die partizipative Vorstellung des Patienten inklusive einem empathischen Verstehen und der Einnahme seiner Perspektive (wie auch immer das gehen mag). Wichtig sei es, Widersprüchlichkeit und Machtgefälle in der psychiatrischen Beziehung benennen.
Widersprüchlichkeiten sind allerdings zuhauf in dem Buch zu finden. Es stellt sich die Frage, weshalb sie vom Autor und den Autorinnen, drei Psychiatern und einer Pflegedienstleiterin, nicht benannt werden.
Sie schreiben, dass das Weddinger Modell Zwangsunterbringungen und sonstige Zwangsmaßnahmen in Häufigkeit und Dauer auf ein absolutes Minimum reduziere. Zwang solle immer nur die letztmögliche und unumgängliche Handlung sein. Aber was ist daran neu, wer unter Psychiatern hat je etwas anderes behauptet? Wichtig seien Behandlungsvereinbarungen und Krisenpläne, um Zwangsmaßnahmen und Zwangsunterbringungen präventiv entgegenzuwirken. Zwangsmaßnahmen sollen im Vorfeld geregelt werden ("Medikation" und Art des Zwangs). Dass eine solche Behandlungsvereinbarung nichts weiter als eine vorauseilende Zustimmung zu einer später möglichen Zwangsbehandlung ist und im Widerspruch zum proklamierten Ernstnehmen von Betroffenen und dem Wunsch nach Vermeidung von Zwang steht, ist kein Thema der Autoren. Glaubwürdiger wäre ihr Herangehen, wenn sie wenigstens eine Patientenverfügung nach § 1901a Absatz 1 BGB als Alternative benennen würden. Diese würde wirksam zumindest einer Zwangsbehandlung entgegenwirken, müsste aber in der Klinik akzeptiert werden.
Offenheit, Mitwirkung und Betroffenenbeteiligung sind Worte, die immer wieder im Buch vorkommen. "Das Recht auf Mitbestimmung muss nicht nur bei der eigenen Therapie, sondern in der Planung, Organisation und Evaluation psychiatrischer Versorgungsangebote insgesamt eingeräumt werden." Wieso aber soll das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit geteilt und Betroffenen nur noch ein Recht auf Mitbestimmung ihrer Behandlung zugestanden werden, das in der Medizin übliche Prinzip des informed consent (Zustimmung nach Information) auch im Weddinger Modell nicht gelten? Dass im Aufnahmegespräch der Patient über die Gestaltung der Therapieplanung informiert wird, klingt fortschrittlich, aber soll er denn nicht im Zentrum des Geschehen stehen und (mit-)bestimmen, welche Behandlung er erfährt? Offenheit sei ein prägendes Prinzip des Weddinger Modells; in wesentliche Bereichen fehlt es leider: Zweifel an der Wirksamkeit oder Sinnhaftigkeit von Psychopharmaka sollen bitteschön nicht in den Besprechungen mit den Patienten thematisiert werden. "Medikamente" könnten Hilfe zur Selbsthilfe sein und die Autonomie erhalten; dass Psychopharmaka, insbesondere Neuroleptika auch weniger hilfreich wirken können (Defizit-Syndrom, metabolisches Syndrom, tardive Dyskinesien, erhöhte Apoptose und erhöhte Sterblichkeit vor allem bei Verabreichung von Kombinationen) und die Autonomie alles andere als erhalten können, diese Risiken jedoch nicht gemeinsam erörtert werden sollen, ist kein optimales Zeichen von Offenheit. Die Wirksamkeit der Psychopharmaka werde gesteigert durch ein emotional günstiges Klima; da stört ein offenes Gespräch über die zugemuteten Risiken sicher.
"Transparenz, Teilhabe und Mitbestimmung innerhalb des Gestaltungs- und Umsetzungsprozesses dürften demnach maßgeblich dazu beigetragen haben, dass das Weddinger Modell lebt und weiterentwickelt wird", schreibt die Pflegeleiterin Ina Jarchow-Jodi. Leider finden sich im Buch keine Hinweise auf Teilhabe und Mitbestimmung innerhalb des Gestaltungs- und Umsetzungsprozesses. Beteiligt an der konzeptionellen Entwicklung des Weddinger Modells waren Psychiatriebetroffene nicht. Sie durften im vorbereitenden Symposium in Diskussionsbeiträgen Erlebnisse schildern. Ob damit Teilhabe und Mitbestimmung gemeint sind? Die erste Evaluation (sach- und fachgerechte Bewertung), die bereits stattfand, nämlich die des Symposiums und seiner Grundlagenseminare für die Implementierung des Weddinger Modells, durfte dann die Ärztekammer übernehmen, während die weitere Evaluation im Rahmen von Dissertationen beteiligter Doktoranden stattfindet. "Die angestrebte trialogische Grundhaltung sollte sich auch in der Evaluation von Qualität und Wirksamkeit des Weddinger Modells widerspiegeln", postuliert die Oberärztin Christiane Montag. Spätestens an dieser Stelle fragt man sich, ob irgend jemand von Verlagsseite das Buch auf widersprüchliche und das Modell konterkarikierende Aussagen vor dem Druck geprüft hat.
So bleibt nach dem Lesen ein zwiespältiger Eindruck. Schön klingen die Worte der Autoren durchaus. Hätte man seit Jahrzehnten nicht immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Psychiater alle für ihre Machtposition gefährlichen Reform- und Kritikansätze kooptieren, d. h. zurechtbiegen und ins eigene Konzept einbauen, um es zu erhalten, und dass all ihre Reformvorhaben und Maßnahmen schon immer "an nichts anderem als dem Wohl der Patienten orientiert" waren, wie auch in diesem Fall, so könnte man dem Weddinger Modell durchaus mehr abgewinnen und das Buch vielleicht auch gut finden. Zumindest wenn in einer Folgeausgabe die Widersprüchlichkeiten klar benannt, die Luftblasen entfernt und die geschilderten Praxiserfahrungen des Weddinger Modells bestätigt sind durch eine Evaluation, an deren Konzeptionierung, Durchführung, Auswertung und Veröffentlichung psychiatriebetroffene Wissenschaftler wirksam beteiligt waren. Rezension im BPE-Rundbrief. Gebunden, 270 Seiten, 35 Abbildungen, ISBN 978-3-88414-555-5. Bonn: Psychiatrieverlag 2014. € 34.95
Peter Lehmann

Valentin Markser / Karl-Jürgen Bär (Hg.): Sport- und Bewegungstherapie bei seelischen Erkrankungen. Forschungsstand und Praxisempfehlungen
Kenntnisse der Trainingslehre könnten helfen, so die Herausgeber, gemeinsam mit dem Patienten die passende Sportart und Bewegungsform zu finden und den Verlauf der Behandlungsmaßnahme effektiver zu planen – nicht als Alternative zu synthetischen Psychopharmaka, sondern als Ergänzung. Das Buch, zum großen Teil bestehend aus Ergebnissen der Arbeit des Referats für Sportpsychiatrie und -psychotherapie innerhalb der DGPPN, ist geeignet für Leute, die überzeugt sind, dass psychiatrische Psychopharmaka eine positive Wirkung haben und diese durch Sport- und Bewegungstherapie verstärkt wird. Wer meint, dass Sport- und Bewegungstherapie beispielsweise Zelltod entgegenwirken kann, wie im Buch erläutert wird, könnte sich natürlich auch fragen, ob es Sinn macht, gleichzeitig Neuroleptika einzunehmen, die Zelltod bewirken und fördern. Solche naheliegenden Fragestellungen findet man in dem Buch nicht. Insofern passt die Tendenz des Buches zur Reihe von Vorschlägen, beispielsweise bei Zyprexa-bedingter Fettleibigkeit Diätmaßnahmen zu versuchen oder nach Elektroschocks Gedächtnisübungen zu machen. Analog zur Psychoedukation (Gehirnwäsche) sprechen die Herausgeber im Geleitwort von "Physioedukation". Erziehung zur Leibestüchtigkeit durch Psychopharmaka-Fans? Nein danke. Gerne hätte ich als Rezensent, der Vorsitzender eines Sportvereins ist und frei vom Verdacht sein sollte, sportliche Betätigung nicht ausreichend wertzuschätzen, etwas Positives zu dem Buch gesagt, dessen Artikel natürlich nicht ausschließlich doof sind. In Zusammenhang mit Sport- und Bewegungstherapie nur neurobiologische Effekte psychiatrischer "Erkrankungen" zu diskutieren, dagegen sich negativ auf sport- und bewegungstherapeutische Bemühungen auswirkende neurobiologische Effekte psychiatrischer Psychopharmaka völlig außer acht zu lassen, lässt mich jedoch erheblich an der medizinischen Ethik zweifeln, die dieses Buch prägt. Aber kann man von Mietmäulern der Pharmaindustrie ernsthaft etwas Sinnvolles erwarten? (Wer sich für das Thema interessiert, dem sei das Buch "Joggen und Laufen für die Psyche – Ein Weg zur seelischen Ausgeglichenheit" von Ulrich Bartmann empfohlen, 2001 erschienen im DGVT-Verlag und seit 2014 in der 6. Auflage erhältlich.) (Rezension in: Fortschritte der Lauftherapie) Gebunden, 244 Seiten, 22 Abbildungen, 21 Tabellen. ISBN 978-3-7945-2993-3. Stuttgart: Schattauer Verlag 2015. € 39.99
Peter Lehmann

Rolf Marschner: Rechtliche Grundlagen für die Arbeit in psychiatrischen Einrichtungen
Der engagierte Münchner Rechtsanwalt Rolf Marschner informiert leichtverständlich über die straf-, zivil- und verwaltungsrechtliche Lage, in der sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter psychiatrischer Einrichtungen (und somit auch die beteiligten Psychiatriebetroffenen) befinden. Aber auch für Menschen, die in institutionellen Alternativen zur Psychiatrie arbeiten, ist dieses Buch von Bedeutung, da der Autor nicht nur die Rechtslage, sondern auch die zugrunde liegenden Probleme anspricht. Behindertenbegriff, Gleichstellung, Selbstbestimmungsrecht, Einwilligungsfähigkeit, Geschäfts-, Testier-, Delikts- und Schuldfähigkeit werden ebenso durchgearbeitet wie Schweigepflicht, Datenschutz, Akteneinsicht, Behandlungs- und Betreuungsverträge incl. Patientenverfügung und Behandlungsvereinbarung. Haftungsgrundlagen, Sorgfaltspflichten, Betreuungsverfahren, Heimrecht, Maßregelvollzug, soziale Sicherung, Rehabilitationsrecht oder Persönliches Budget sind weitere wichtige Themen im Buch. Und auch die Möglichkeiten (für die Betroffenen) und Probleme (für die Psychiatrie), die sich aus der UN-Konvention der Rechte von Menschen mit Behinderung ergeben, sind in dem empfehlenswerten Buch thematisiert. Weshalb sich weiterführende Hinweise auf die einschlägige Literatur und Rechtsprechung ausschließßliche als Verweis auf die Veröffentlichung einer Entscheidung in der Zeitschrift Recht & Psychiatrie, beschränken, weiß sicher alleine die PR-Abteilung des Psychiatrie-Verlags. In diesem Verlag erscheint Recht & Psychiatrie. So ist man jedesmal gezwungen, sich die Zeitschrift umständlich in der Bibliothek zu besorgen, wenn man ein Urteil nachlesen will. Kartoniert, 142 Seiten, ISBN 978-3-88414-468-8. Bonn: Psychiatrie-Verlag 2009. € 14.95
Peter Lehmann

Peter H. Martens: Bio-Polarität – Goldene Schlüssel zu einem optimalen Leben
Über den Ursprung der – nach eigenen Worten vom Autor 1981 entdeckten – "Biopolarität", einer ethischen Lebenslehre von den im Leben enthaltenen Gegensätzlichkeiten und dem freien Willen des Menschen, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden, sowie der "Optimal-Methode", der 1968 vom Autor entwickelten humanen Methode zur Verursachung von effektiven und dauerhaften Erfolgen in allen Lebensbereichen. Ein recht esoterisch angehauchtes Buch für alle Freunde von Peter H. Martens, die an Universalratgeber glauben. Ich gehöre leider nicht dazu und bin vermutlich verloren. Kartoniert, 188 Seiten, ISBN 978-3-921271-46-9. Kelkheim: Optimal Verlag 2009. € 16.80
Peter Lehmann

Jörg Martin (Hg.): PsychoManie. Des Deutschen Seelenlage
Sammlung teils bissiger, teils ironischer und spannend zu lesender Artikel von Therapeuten, Journalisten und Wissenschaftler(inne)n über den Boom einer vulgären Hobbypsychologie im Berufs- und Alltagsleben, über die vielen Hobby-Freuds unter uns und die Gefahr, selbst einer zu werden. Kart., 227 S., Leipzig: Reclam Bibliothek (Nr. 1570) 1997. DM 20,–
Peter Lehmann

Jeffrey M. Masson: Die Abschaffung der Psychotherapie. Ein Plädoyer
Eine schonungslose Abrechnung mit machtbesessenen Therapeuten, von Jung über Erickson, Ferenczi, Freud, Rogers, Rosen bis hin zu modernen, sich alternativ gebenden Therapeut(inn)en. In dem spannend geschriebenen und präzise recherchierten Buch weist der frühere Psychoanalytiker Masson seiner ehemaligen Kollegenschaft arrogante Bevormundung, psychischen Terror, physische Gewalt, sexuellen Missbrauch sowie eine Fülle von Irrtümern nach. Gebunden, 352 Seiten, München: C. Bertelsmann Verlag 1991. DM 42,–
Peter Lehmann

Jeffrey M. Masson: Was hat man dir, du armes Kind getan? Oder: Was Freud nicht wahrhaben wollte
Wie Freud sexuellen Missbrauch in Familien zum Wunschprodukt und seine PatientInnen zu Phantasten erklärte, um als Psychoanalytiker und Psychiater auf der Seite der Macht zu bleiben. Neu übersetzt, 302 S., Freiburg: Kore Verlag 1995. DM 39.80
Peter Lehmann

Andrew Mathews / Michael G. Gelder / Derek Johnston: Platzangst – Ein Übungsprogramm für Betroffene und Angehörige
Ratgeber für Leute mit plötzlich auftretenden Beschwerden wie Herzjagen, Schweißausbrüche, Atemnot, Schwächegefühl, Zittern am ganzen Körper, Schwindelgefühl, Angst umzufallen und Angst vor einem Panikzustand zur Überwindung der Ängste, der es ermöglicht, die intensiven Übungen alleine, mit einem Arzt oder Therapeuten durchzuführen bzw. die betroffenen Angehörigen und Freundinnen (70-90% der Betroffenen sind Frauen) zu unterstützen. Die Übungen sind präzise beschrieben, so dass sie sorgfältig durchgeführt und evtl. wiederholt werden können, bis die Ängste nachlassen und hoffentlich bald verschwinden. Arbeits- und Protokollbögen helfen hierzu. Der Empfehlung, Beruhigungsmittel evtl. vor Übungsbeginn abzusetzen, folgt leider keine Warnung, dass oft genug Tranquilizern dann einfach durch Antidepressiva und Neuroleptika ersetzt werden mit der Falschaussage, diese würden nicht abhängig machen. Offene Augen sind also angebracht; ebenso wie gute Augen, denn der Ratgeber ist in sehr kleiner Schrift erfaßt. Kartoniert, IX + 131 Seiten, ISBN 10: 3-8055-7682-X, ISBN 13: 978-3-8055-7682-6. Basel usw.: Karger Verlag, 4., unveränderte Auflage 2004. € 23.–
Peter Lehmann

Joergen Mattenklotz: Auf dass es nie vergessen werde! Die Psychiatrie im Nationalsozialismus unter Berücksichtigung der Pflege am Beispiel der Heilanstalt Eickelborn
Buch über Zwangssterilisationen in der psychiatrischen Anstalt Eickelborn und die Beteiligung der Psychiater und Wärter an den psychiatrischen Massenmordaktionen ("Euthanasie") sowie den Widerstand dagegen, insbesondere geistlicher Ordensschwestern, und deren Schicksale. Mit den Befragungsergebnissen eines überlebenden Betroffenen und eines Wärters, der von der problemlosen Weiterbeschäftigung an den Verbrechen beteiligter Psychiater nach 1945 berichtet. Ob die damals in nachgeordneter Stellung Beteiligten den Zweck der jeweils geplanten "Euthanasiemaßnahmen" erkennen konnten, ist für den Autor, einen Psychiatriepfleger, fraglich, insbesondere da die Schwestern und Pfleger damals nicht gewohnt gewesen seien, ärztliche Anordnungen zu hinterfragen. Rezension im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 81 Seiten, Abbildungen & Faksimiles, ISBN 978-3-89514-612-1. Aachen: Karin Fischer Verlag 2006. € 11.50
Peter Lehmann

Tom Matzek: Das Mordschloss – Auf der Spur von NS-Verbrechen in Schloss Hartheim
Rekonstruktion des Grauens in den traditionsträchtigen Räumen des oberösterreichischen Renaissance-Schlosses Hartheim, der größten Vergasungsanstalt der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Aktion einschließlich der Würdigung des Widerstands gegen den psychiatrischen Massenmord. Gebunden mit Schutzumschlag, 318 Seiten, 43 Schwarz-Weiß-Photos, ISBN 3-218-00710-0. Wien: Kremayr & Scheriau / Orac 2002. € 22.90
Peter Lehmann

Mariella Mehr: Daskind
Roman über ein Mädchen, das bei Pflegeeltern aufwächst, missbraucht und misshandelt wird und lernt, sich zu wehren. »Die Pflegemutter beachtet es kaum, der Pflegevater scheint es zu lieben, denn er weint, wenn er es schlägt.« Geb., 224 S., Zürich/Frauenfeld: Nagel & Kimche 1995. DM 36.80
Peter Lehmann

Mariella Mehr: Zeus oder der Zwillingston
Anspruchsvoller Roman. Vielschichtige und grell überzeichnete Horrorgeschichten aus »Narrenwald«, womit die Schweizer Anstalt Waldhaus in Chur gemeint ist. »Zeus« ist der Schweizer Schriftsteller Tassaux, ein Freund der Autorin, der sich 1983 in der Unianstalt Waldau/Bern von einem Mitinsassen mit einem Stück Holz erschlagen ließ. Im Buch trifft er auf Rosa Zwiebelbusch, die ihr Kind, das bei einer Vergewaltigung gezeugt worden war, tötete, was sie in die Anstalt brachte. Die Schicksale der beiden und ihre Beziehung zueinander bilden zwei Ebenen des Romans. Die dritte birgt eine mythologische Schicksalstragödie, in der sich der uralte Orakelspruch des Prometheus vom Sturz des Göttervaters Zeus erfüllt. Dieser, der Patriarch des griechischen Olymp, lässt sich von seinem fliegenden Ross Pegasus im dritten Stock einer Psychiatrischen Anstalt absetzen, weil er sich seiner Unsterblichkeit entledigen will. Geb., 271 S., Zürich: Ruth Mayer Edition 1994. DM 43.–
Peter Lehmann

Werner Meidinger: Natürlich heilen mit Cannabis. Neueste Forschungsergebnisse zu Cannabinoiden und Cannabidiol (CBD)
Wenn Journalisten Fach- oder Sachbücher schreiben, kommen dabei häufig oberflächliche, feuilletonartige Publikationen heraus. Auch der Autor von "Natürlich heilen mit Cannabis arbeitet als freier Journalist. Dennoch ist ihm ein sorgfältig recherchiertes und verantwortungsvoll geschriebenes Buch gelungen. (Und das im für seine verschwörungstheroretischen Bücher bekannten Kopp-Verlag.) Übersichtlich und sachlich informiert Meidinger über die Wiederentdeckung von Cannabis als Medizin, seine Inhaltsstoffe und speziell dem nicht psychoaktiven CBD mit seiner antipsychotischen Wirkung. Im ersten Teil benennt er den sich erst in Anfangsstadien befindenden Forschungsstand, erläutert das menschliche Endocannabinoid-System sowie Anwendungsformen, zählt wirkungsverstärkende Substanzen auf, warnt vor Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten (auch Psychopharmaka) und mit Alkohol. Und er warnt vor Substanzen mit hohem, psychotisch machendem THC-Gehalt sowie dem Einsatz während der Schwangerschaft und Stillzeit. Weiterhin benennt er Ärzteadressen und Beratungsstellen. Im zweiten Teil geht es um die Eignung von CBD zur Behandlung von Angstzuständen und Phobien, sog. Schizophrenie, Depressionen, Schlafstörungen, Stress und nervlicher Belastung, Nikotinabhängigkeit, Epilepsie, chronischen Schmerzen, Allergien, Autoimmunerkrankungen, grünem Star (Glaukom), chronischen Entzündungen, Rheuma, hohem Blutdruck, Asthma, Diabetes, Reizdarm und chronischen Darmentzündungen, Leberfunktionsstörungen, Tumorleiden, Krämpfen und Verspannungen, Parkinson, Bewegungsstörungen, Spastiken, und vielen weiteren Beschwerden wie . Entgegen dem modischen Trend preist Meidinger CBD nicht als Allheilmittel an, sondern benennt immer wieder andere sinnvolle Maßnahmen zur Vorbeugung oder Linderung von Krankheiten und psychischen Schwierigkeiten sowie Kontraindikationen von CBD und spezielle Probleme in Richtung unerwünschten Wechselwirkungen oder gar krankheitsverstärkender Effekte. Das Buch endet mit der Anwendung von CBD bei Tieren. Kartoniert, viele farbige Abbildungen, 240 Seiten, ISBN 978-3-86445-699-2. Rottenburg: Kopp Verlag 2019. € 9.99
Peter Lehmann

Marietta Meier / Mario König / Magaly Tornay: Testfall Münsterlingen. Klinische Versuche in der Psychiatrie, 1940-1980
Marietta Meier, Titularprofessorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich, Mario König, freischaffender Historiker, und Magaly Tornay, Historikerin an der Universität Zürich, haben ein sorgfältig recherchiertes und nüchtern-sachliches Buch über Versuche mit nicht zugelassenen Medikamenten in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen in der Schweiz geschrieben. Möglich wurde das Forschungsprojekt "Testfall Münsterlingen" durch Finanzmittel des Staatsarchivs Thurgau und die Überlassung des Nachlasses von Roland Kuhn und seiner Frau Verena.
Unter anderem Ernst Grünthal und Jakob Klaesi und dann vor allem Roland Kuhn forschten gegen immer üppig werdende Bezahlung ("vom Bach zum Strom") mit allen möglichen Substanzen, speziell Antidepressiva und Neuroleptika, für die Pharmafirmen Ciba, Geigy, Hoffmann-La Roche, Wander und Sandoz. Diese hatten dem Autorenteam zum Teil Zugang zu ihren – gelegentlich große Lücken aufweisenden – Archiven gewährt. Experimentiert worden war an Kindern, Erwachsenen (auch Pflegerinnen und Pflegern), ohne Aufklärung und Einwilligung der Betroffenen, teilweise unter gewaltsamer Verabreichung der Prüfsubstanzen, teilweise heimlich in Suppen oder den Kaffee gemischt, mit Wissen aller fachlicher und staatlicher Aufsichtsbehörden. Neben den Klinikangestellten, so das Autorenteam, waren auch Hausärzte, niedergelassene Psychiater, Heime und Spitäler in die Versuche eingespannt, ebenso Angehörige, Nachbarn und Vorgesetzte der Betroffenen. Kritische Stimmen zu den Psychopharmakaversuchen hätten sich in den eingesehenen Quellenbeständen nicht gefunden, "nicht einmal aus der Ärzteschaft".
Roland Kuhn machte sich in seinen psychiatrischen Kreisen einen Namen als "Vater" des Imipramin (Markenname Tofranil), dem er 1958 als erstem trizyklischen Antidepressivum zum Durchbruch verhalf. An Vergütungen und Umsatzbeteiligungen erhielt er im Lauf der Jahre mehrere Millionen Schweizer Franken, wie das Autorenteam belegt. Kuhn hatte die verschiedensten Substanzen an einem Großteil der ihm anvertrauten Klinikpatientinnen und -patienten getestet, teilweise auch noch nach ihrer Entlassung. Durch Auswertung seiner Aufzeichnungen sind Schädigungen der Betroffenen belegt: Erblindungen und andere körperliche Erkrankungen, Suizide, Fälle von Herztod – zum Teil unmittelbar nach Verabreichung der Prüfsubstanzen eingetreten, doch wie üblich in der Psychiatrie nicht auf die Behandlung zurückgeführt, sondern angeblich zugrunde liegenden Vorerkrankungen in die Schuhe geschoben.
Die über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten währenden Psychopharmakaversuche ordnet das Autorenteam ein in die sich im Lauf der Jahre verändernde Medizinethik. Und sie benennt viele offene Fragen: Wie viele Klinikpatienten erhielten Prüfsubstanzen, ohne dass ihr Name in Kuhns Nachlass verzeichnet war? Zu wie vielen schweren Zwischen- und Todesfällen kam es? Sah die Prüflandschaft außerhalb Kuhns Klinik anders aus? Und es benennt am Buchende weitere Fragestellungen: Wie ließen sich biographische "Wanderungen" von Patienten durch verschiedene psychiatrische Einrichtungen nachverfolgen? Welche Schicksale erlitten sie?
Insgesamt besticht das Buch durch seine Detailliertheit, seine Unvoreingenommenheit und seinen sachlichen Ton. Der Leserschaft bleibt es überlassen, ihr Urteil zu fällen über eine medizinisch und ethisch fragwürdige Praxis, über persönliche Bereicherungen von Psychiatern "im Interesse der psychisch Kranken", über Profilierungen zulasten von Patientinnen und Patienten, über die strafrechtlich relevante Praxis psychiatrischer Anwendungen ohne Information über Risiken und Schäden und somit ohne rechtswirksame Einwilligung – wie sie der heutigen Mainstream-Psychiater nach wie vor zugrunde liegt, auch hierzulande. Wieso eigentlich sind gesetzeswidrige psychiatrische Praktiken immer mit jahrzehntelanger Verspätung Fälle für Historikerinnen und Historiker und nicht aus gegebenem Anlass Fälle für die heutigen Strafverfolgungsbehörden?
(Rezension in: Soziale Psychiatrie) Gebunden, 334 Seiten, 19 farbige und 11 schwarz-weiße Abbildungen. ISBN 978-3-0340-1545-5. Zürich: Chronos Verlag 2019. € 38.–
Peter Lehmann

Theodor Meißel (Hg.): Zur Einbürgerung des psychisch Kranken
Der Herausgeber Meißel, ein Psychiater, schafft es, 42 psychiatrisch Tätige zum Thema Einbürgerung schreiben zu lassen und dabei Psychiatriebetroffene als Co-Autoren systematisch auszuschließen. Man muss dem Verlag, der dies akzeptiert, leider sagen, dass man so etwas vom 19. Jahrhundert kennt, aber im 21. Jahrhundert nicht mehr sehen mag. Mein Vorschlag: das Buch ignorieren und auf ein Buch mit einem weniger ausgrenzenden Ansatz warten. Kartoniert, 423 Seiten, ISBN 978-3-901409-64-6. Linz: edition pro mente 2005. € 22.–
Peter Lehmann

Thomas Melle: Die Welt im Rücken
Thomas Melle, erfolgreicher Buchautor in Berlin, hat einen schonungslosen autobiographischen Bericht über das von einer »manisch-depressiven Krankheit« zerrissenen Bipolarität geschrieben, den Verlust des Fundaments des eigenen Lebens und seiner Kontinuität, der von der Manie zerschossenen Vergangenheit und der Bedrohung der Zukunft. Melle hat seit vielen Jahren die Diagnose »manisch-depressiv«, nicht von ungefähr. In seinem Buch blickt er zurück auf 19 Jahre seines Lebens, drei Manien zwischen 1999 und 2010. In starken Worten erzählt er von seinen persönlichen Dramen, von Größenphantasien, was ihm so alles durch den Kopf ging, von wiederholtem Absturz und von Besserung und hofft so, begreifbarer zu machen, was ihm widerfahren ist. Von Psychiatern erhielt er Lithium, und da dieses seine Haut schädigte, nimmt er jetzt das Antiepileptikum Valproinsäure, das als Phasenprophylaktikum wirken und ihn stabilisieren soll. Was ihm widerfahren ist, hat für den Autor offenbar nichts mit ihm zu tun, sondern den Botenstoffen in seinem Gehirn. Weshalb diese aber mehrmals über ihn kamen, weshalb er in seinen Verrücktheitsphasen so wahnsinnig wichtig wurde, dass – wie er wähnte – alle möglichen Prominenten und Schriftsteller mit ihm kommunizierten, scheint Schicksal zu sein, auf das er nur mit Psychopharmaka reagieren kann. Verständlich wird diese Haltung, wenn man sein Glaubensbekenntnis an ein genetisch bedingtes Ungleichgewicht seines Stoffwechsels liest, das sein Gehirn nicht bemerkt, wenn es wieder so weit ist. Dann »... scharren die ersten Neurotransmitter mit den Hufen, jene Botenstoffe, die Informationen von Zelle zu Zelle transportieren: Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. Sonst tragen sie die Signale weiter und sorgen im Organismus für Aktivität, Belohnung und Gefühlsausschüttungen. Ihrer Kellnerrolle sind sie aber längst überdrüssig. Sie vermehren sich und planen den hysterischen Aufstand. Bald überschwemmen sie das Terrain und werfen das Bestellte quer durch den Raum, an die Wände und in die Gesichter, ziehen das ganze Etablissement auf links. Dann kocht der Gehirnstoffwechsel über, und der Mensch rastet aus.« Biologische Psychiatrie pur, literarisch aufgemotzt, für den Autor verlockend, sich damit und mit der zugewiesenen Rolle als »Fehlexemplar« zufrieden zu geben und auch nicht entfernt daran zu denken, seinen Schwächen und vielleicht auch Sensibilitäten auf die Spur zu kommen, die ihn zu bestimmten Zeiten in bestimmten Formen derart ausrasten lassen. Dann gibt es auch nichts am eigenen Leben zu ändern – außer Psychopharmaka zu schlucken. Mögen sie ihm wohl bekommen. Seine subjektive Erfahrung sollte aber kein Grund sein, die eigene Meinung unreflektiert zu verallgemeinern und andere Sichtweisen psychischer Extremzustände mal eben komplett zu ignorieren. Eine verbreitete, trotzdem ärgerliche Haltung. Rezension im BPE-Rundbrief. Gebunden mit Schutzeinschlag, 348 Seiten, ISBN 978-3-87134-170-0. Berlin: Rowohlt Verlag 2016. € 19.95
Peter Lehmann

The Mental Health Foundation (Ed.): Knowing our own minds – A survey of how people in emotional distress take control of their lives
The first report of a survey carried out at the Mental Health Foundation during 1996, and led by a group of psychiatric users and survivors. The aim of the research was to gain insight into the activities, treatments or therapies that people with experience of a range of different psychiatric problems find helpful. And to learn about the different coping strategies people develop. The research covered most of the treatment methods and therapies experienced by people, including: psychiatric drugs, electroshock, ›talking treatments‹ (counselling or psychotherapy), alternative and complementary therapies, hobbies and leisure activities, and religious and spiritual beliefs. Booklet, 104 A4-pages, London 1997. How to order: Send a cheque about 7 GPD to: The Mental Health Foundation, 37 Mortimer Street, London W1N 8JU, England.
Peter Lehmann

Kate Millett: Der Klapsmühlentrip
Die bekannte Vertreterin der Frauenbewegung schildert u.a. ihre jahrelange Odyssee durch die Psychiatrie. Zwangseinweisung wegen »seelischer Missstimmung«. Selbstmordversuch. 13 Jahre währendes Martyrium. Trotz Unverständnis seitens ihrer Umgebung schafft sie endlich den Ausstieg aus der Psychiatrie. Jeffrey Masson: »Kate Millett schreibt, sie denkt, sie ergründet das Verrücktsein. Sie lässt einen an ihrem innersten Denken auf eine Art und Weise teilnehmen, wie es keinem Psychiater jemals gelungen ist. Und das, was man sieht, ist keine verrückte Frau, sondern ein Mensch wie du und ich, nur ein bisschen talentierter und geistig sehr gesund (aber verdammt verrückt).« Aus dem Amerikanischen, broschiert, 395 Seiten, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1993. DM 39.80
Peter Lehmann

Georg Milzner: Jenseits des Wahnsinns – Psychose als Ausnahmezustand: Perspektiven für eine andere Psychiatrie
Auf fundierter und umfangreicher Auseinandersetzung mit Psychosetheorien aller Art und transpersonalem Verständnis außergewöhnlicher Bewusstseinszustände basierendes Plädoyer für den "Dritten Weg": eine neurowissenschaftlich angereicherte Psychiatrie und Psychotherapie, in der der Therapeut durch Manipulation seines eigenen Zustands (z. B. durch Trance) "dem fremden Zustand" näher kommt, um "Psychotiker" mit ihren "neuronalen Sonderzuständen" dann adäquater verstehen und behandeln zu können. Auf zur nächsten Psychosentheorie, dem Zeitgeist entsprechend eine neurowissenschaftlich geprägte! Kartoniert, 212 Seiten, ISBN 978-3-8260-4215-7. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2010. € 29.80
Peter Lehmann

Hans-Jürgen Möller / Hans-Jürgen Staub (Hg.): Langzeitbehandlung mit Psychopharmaka
9 Beiträge einer ›Expertenrunde‹ vom »3. Salzburger Symposium zur Lebensqualität chronisch Kranker«. Die Interessen der beiden Herausgeber (der biologische Psychiater Möller und Herr Staub von Smith Kline Beecham Pharma) lassen ahnen, worum es geht: die möglichst lebenslängliche Verabreichung von psychiatrischen Psychopharmaka aller Art zu propagieren. Dankenswerterweise reflektieren einzelne Autoren wenigstens im Ansatz (in ca. 5 Sätzen, versteckt auf 80 Seiten) die Fragwürdigkeit der behaupteten Forschungsergebnisse. So sind sogenannte Doppelblindstudien, die Voraussetzung normaler wissenschaftlicher Forschung, kaum oder gar nicht vorhanden, also Untersuchungen, in denen eine Gruppe von Menschen mit psychiatrischen Problemen Psychopharmaka und eine Kontrollgruppe mit vergleichbaren Problemen Placebos erhält, ohne dass die Behandler und Diagnostizierenden wissen, wer was bekommen hat. Auch wird freimütig zugegeben, dass man keine Ahnung hat, ob es sich bei »Rückfällen«, die als Hauptargument für die Langzeitverabreichung herhalten müssen, nicht doch um Absetz- oder Reboundphänomene handelt. Aber dies ist noch lange kein Grund für die Artikelschreiber, ihre Glaubenshaltungen in irgendeiner Weise in Zweifel zu ziehen. Kart., 80 S., 33 Abb., 26 Tab., Stuttgart / New York: Thieme Verlag 1995. DM 30.–
Peter Lehmann

Robert F. Morgan (Ed.): Electroshock – The Case Against
Eine exzellente und aktualisierte Sammlung von 5 Artikeln, die der US-amerikanische Psychologe und Bürgerrechtler Robert Morgan neu herausgegeben hat. Die Artikel:
* Berton Roueché, »As Empty as Eve«
* Robert F. Morgan: »Shock Treatment I: Resistance in the 1960s«
* John M. Friedberg: »Shock Treatment II: Resistance in the 1970s«
* Peter R. Breggin: »Shock Treatment III: Resistance in the 1980s«
* Leonard R. Frank: »Shock Treatment IV: Resistance in the 1990s«
Mit diesen Männern sind fünf hervorragende Elektroschockkritiker aus Übersee (ein Medizin-Journalist, ein Psychologe, ein Neurologe, ein Psychiater und ein Psychiatrie-Überlebender) in der sehr empfehlenswerten Broschüre versammelt. Sie kann bestellt werden durch Zusendung eines Schecks oder einer US-Geldanweisung in Höhe von 13.45 $ (10.95 $ plus 2.50 $ Versandkosten bzw. 1.50 $ für jedes weitere Exemplar) an Prof. Dr. Robert Morgan (Psy), Eastern Montana College, 1500 North 30th Street, LA-Building, Room 524, Billings, Montana 59101-0298, USA. 2. Auflage, ISBN 0-920702-82-1, kartoniert, 96 Seiten, Toronto/Ontario (Kanada): IPI Publishing Ltd. 1991. US-$ 10.95
Peter Lehmann

Steffen Moritz / Marit Hauschildt: Erfolgreich gegen Zwangsstörungen. Metakognitives Training – Denkfallen erkennen und entschärfen
Buch eines Psychologin und einer Psychologin mit Übungen zur Bewältigung von Zwangsstörungen in Selbsthilfe unter Berücksichtigung metakognitiver, kognitiv-verhaltenstherapeutischer und psychoanalytischer Ansätze, verfasst für Betroffene sowie für Therapeuten. Das bereits in dritter Auflage erschienene Buch (original 2010) zielt auf die Entpathologisierung von Zwangsgedanken. Mit Übungen und Verhaltensexperimenten, entlehnt aus der sogenannten Akzeptanz- und Commitment-Therapie sowie der sogenannten Positiven Psychologie und unterteilt in 14 Kapitel von "Sind schlechte Gedanken anormal? über "Signalisieren Gefühle echte Gefahr?" bis "Werde ich nie wieder gesund und am Ende sogar verrückt?", sollen die Betroffenen lernen, Zwangsgedanken eine geringere Bedeutung beizumessen und ihnen so ihre Macht zu nehmen. Mit verkleinert dargestellten Arbeitsblättern, die man nach Eingabe der ISBN von einer Website des Springer-Verlags gratis beliebig oft herunterladen kann. Ein alternativer Ansatz ohne synthetische Psychopharmaka für alle, die ohne Anleitung nicht gegen quälende Zwangsgedanken ankommen. Kartoniert, XVI + 179, 156 Abbildungen, 19 Tabellen, ISBN 978-3-662-48751-8. Heidelberg: Springer Verlag, 3., aktualisierte und erweiterte Auflage 2016. € 29.99
Peter Lehmann

Kurt Mosetter / Reiner Mosetter: Die neue ADHS-Therapie. Den Körper entstressen – Ein Übungsbuch
Die beiden Autoren, ein Arzt und ein Trainer für Myoreflextherapie, plädieren dafür, Körper und Psyche über die Bearbeitung neuromuskulärer Verhaltensmuster zu beeinflussen, d.h. Myoreflextherapie, KiD-(=Kraftentfaltung-in-Dehnungsposition-)Übungen, Augenübungen usw. anzuwenden. Diese Übungen werden detailliert und mit Abbildungen erläutert und sind es sicher wert, ausprobiert zu werden, auf alle Fälle weniger risikobehaftet als die üblichen synthetischen Psychopharmaka. Das Buch versteht sich weder als psychotherapeutisch noch als psychopharmakologisch orientiert, sondern bemüht sich, beide Richtungen zu integrieren. Scheinbar objektiv wird auf den ersten 30 Seiten, dem ersten Kapitel, der Hintergrund der ADHS-Diskussion abgebildet, psychopharmakalogische wie psychotherapeutische Lehr- und Behandlungsmethoden werden vorgestellt. Da jeweils nur die (behaupteten) Vorteile, nicht aber die Risiken genannt werden, bleibt ein schaler Eindruck. Hätten die Autoren etwas Distanz zur biologisch-psychiatrischen Sichtweise entwickelt und ausgewogener geschrieben, könnte man das Buch problemlos weiterempfehlen. Kartoniert, 155 Seiten, ISBN 3-530-40178-1. Düsseldorf: Walter Verlag 2005. € 14.90
Peter Lehmann

Loren Mosher / Voyce Hendrix und die Beteiligten des Soteria-Projekts mit Deborah Fort: Dabeisein. Das Manual zur Praxis in der Soteria
Lebendig geschriebener Schlussbericht über das – inzwischen längst abgewickelte – Projekt einer institutionellen Alternative zur Psychiatrie in San Francisco, mit einer ehrlichen Darstellung sowohl seiner Erfolge als auch seiner Schwierigkeiten. Angesichts der beschriebenen, allgemein auftretenden Störeinwirkungen von außen ist die Broschüre eine Basislektüre für alle, die ein alternatives Projekten aufziehen wollen. A4-Format, 99 S., Bonn: Psychiatrieverlag 1994. DM 24.80
Peter Lehmann

Christian Müller: Die Gedanken werden handgreiflich. Eine Sammlung psychopathologischer Texte
Der Schweizer Psychiater Müller hat sich das Buch seines Kollegen Karl Birnbaum »Psychopathologische Dokumente« von 1920 vorgenommen, die Dokumente fein säuberlich nach den geltenden ICD-Klassifikationen sortiert (»Hier fühlte ich mich verpflichtet, andere Wege zu gehen.«) und einige Dokumente heute unbekannter Literaten durch zugkräftigere Namen ersetzt. Fertig ist die Laube. »Dem Vorwurf der Ehrfurchtslosigkeit«, den Birnbaum immerhin noch in Betracht gezogen hatte, »sehen wir uns heute weniger ausgesetzt.« Also werden gnadenlos psychiatrische Krankheitskonstrukte als nicht mehr hinterfragbare Gegebenheiten gesetzt, und die Dichter liefern die ›Beweise‹. Der »präpsychotische« Hölderlin muss herhalten zur Erklärung der ›Vulnerabilität‹, obwohl er sogar in dem Textbeispiel sagt, dass sein »Hospital, wohin sich jeder auf meine Art verunglückte Poet mit Ehren flüchten kann, – die Philosophie« ist und nicht die Psychiatrie. Aber das macht Müller nichts. Auf Teufel komm raus schlachtet er die Literatur aus, erklärt die einen Literaten für schizophren, die anderen für neurotisch und die wieder anderen für zwar gesund, aber einfühlsam genug, um psychische Krankheit zu schildern, auch wenn davon in den Texten gar nicht die Rede ist. Robert Walser, »bei dem der Ausbruch der schizophrenen Psychose zusammenfällt mit dem Stillstand, dem völligen Versiegen seiner dichterischen Tätigkeit«, unterstellt Müller, dies sei krankheitsbedingt, wobei sich Walser doch wirklich klar dazu geäußert hat: »Es ist ein Unsinn und eine Roheit, an mich den Anspruch zu stellen, auch in der Anstalt zu schriftstellern. Der einzige Boden, auf dem ein Dichter produzieren kann, ist die Freiheit.« Müllers Psychopathologiegedanken werden handgreiflich, wenn man die Folgen bedenkt. Reicht in Zukunft schon ein phantasievoller Deutschaufsatz, um in der Klapse zu landen? Sollten SchriftstellerInnen ihre Werke rechtlich vor Unterstellungen und sich vor psychiatrischen Nachstellungen schützen? Geb., 168 S., 2., korr. Aufl., Heidelberg: Springer Verlag 1993. DM 48.–
Kerstin Kempker

Claus P. Müller-Thurau: Die Seelenschnüffler – oder wie man Psycho-Experten und ihre Methoden durchschaut
Ein Unternehmensberater plaudert sein Insiderwissen aus, mit vielen witzigen Anekdoten versehen. Unterhaltsam und schlagfertig putzt der eher konservativ orientierte Diplompsychologe die einzelnen Psychomethoden herunter, erklärt Validitäts- und Reliabilitätsprobleme: Was testet ein Test wirklich, wie zuverlässig ist die Diagnose. In einem eigenen Kapitel legt Müller-Thurau die Mitteilungen bloß, die in Arbeitszeugnissen versteckt sind. Leider sind Psychotests des sogenannten klinischen Bereichs in Müller-Thuraus Buch ausgespart, basierend auf dem Glauben, diese Daten seien »weitaus brauchbarer«, da die Tests angstfrei und ohne ökonomische Interessen ablaufen würden. Geb., 190 S., Hamburg: Rasch & Röhring 1993. DM 36,– / sFr 37.50 / öS 281,– Taschenbuchausgabe 1995: Econ TB 26158. DM 12.90
Peter Lehmann

Thomas R. Müller / Beate Mitzscherlich (Hg.): Psychiatrie in der DDR – Erzählungen von Zeitzeugen
28 zu Monologen umgeschriebene Erfahrungsberichte von Betroffenen (19), Psychiatern und Pflegekräften geben Einblick in die DDR-Psychiatrie, speziell Sachsen (Leipzig, Dösen, Rodewisch, Altscherbitz, Waldheim) in den Siebzigern und Achtzigern. Es geht unter die Haut, wie nüchtern, klar und selbstkritisch Menschen, die viele Jahre, oft seit ihrer Kindheit, eingesperrt, elektrogeschockt, "kiloweise" mit Psychopharmaka vollgestopft, gedemütigt und als kostenlose Arbeitskräfte ausgenutzt wurden, ihre Erfahrungen schildern. Da wird für Frank Leupolt die Anstalt Dösen und die Haftanstalt zum "Kurhotel" im Vergleich zu Waldheim und das Waldheim der Siebziger im 64-Mann-Saal ist fast erträglich gegen das der Achtziger, eine Art Arbeitslager mit begleitender Folter. Wenn man die Beschreibungen der Geschehnisse am gleichen Ort zur gleichen Zeit zueinander in Beziehung setzt, entlarvt dies manche Schönfärberei der Mitarbeiter. Z.B. fallen dem damaligen Leiter von Rodewisch, Tilo Degenhardt, an Mängeln nur die Heizungsanlage und die fehlenden Einwegspritzen ein: "Die Patienten haben darunter nicht gelitten." Sie haben, wie Frau Ziehnert, wohl mehr darunter gelitten, dass sie dort bei ihrem ersten Psychiatrieaufenthalt unaufgeklärt "anfangs 21 Tabletten unterschiedlicher Art nehmen musste" und gleich elektrogeschockt wurde, während eine Krankenschwester abgemahnt wurde, weil sie eine Frau nicht allein in der gefliesten Abstellkammer sterben lassen wollte. Degenhardt bedauert es, dass heute Amtsrichter Zwangseinweisungen verfügen, "zu viele fachfremde Leute". Kartoniert, 245 Seiten, 12 Zeichnungen, ISBN 3-938304-46-4. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag 2006. € 23.90
Kerstin Kempker

Tilman Müller / Beate Paterok: Schlaf erfolgreich trainieren – Ein Selbsthilfebuch für Schlafgestörte und schlechte Schläfer
Die Autoren, zwei Psychologen an der Universitätsklinik Münster, erläutern die Ursachen von Schlafstörungen und schlagen als Behandlungsmethode die sogenannte Schlafkompressionstherapie vor, eine reduzierte Schlafperiode, die wie ein lang anhaltender kontinuierlicher Schlafentzug wirken soll, wodurch die Ein- und Durchschlafsfähigkeit und schließlich die Schlafeffizienz gesteigert werde. Zudem befassen sie sich mit kulturellen und wissenschaftlichen Aspekten des Schlafs, um die Leser zu Experten in eigener Sache zu machen. Selbsthilfemaßnahmen, Schlaflabor und psychopharmakologische Maßnahmen werden im letzten Kapitel abgehandelt. Aufgrund u.a. depressiver oder euphorisierender Begleitwirkungen empfehlen die Autoren ihre Maßnahme allerdings ausdrücklich nicht für schlafgestörte Menschen mit der Diagnose Depression oder Psychose. Statt dessen listen sie als mögliche Schlafmittel u.a. Benzodiazepine und verwandte Beruhigungsmittel, Antidepressiva und Neuroleptika auf, die – insbesondere letztere – Bewusstsein und intellektuelle Fähigkeiten nicht wesentlich beeinflussen würden. Man hat den Eindruck, hier haben sie einfach aus psychiatrischen Lehrbüchern abgeschrieben. Sie sollten diese Substanzen eine Zeitlang selbst einnehmen, dann würden sie vermutlich ein realistischeres Bild von deren Wirkung auf Geist und Psyche zeichnen. Die aufgelisteten "Vorteile" von Neuroleptika (angeblich geringes Abhängigkeitsrisiko, relativ geringe Auswirkungen auf das Herz-Kreislaufsystem) hinterlassen ein weiteres bitteres Gefühl beim Lesen des Buches angesichts des Wissens, dass die Lebenserwartung neuroleptikabehandelter Menschen vermutlich im Wesentlichen aufgrund psychopharmakabedingter Herz-Kreislauf-Störungen und Diabeteserkrankungen um durchschnittlich bis zu drei Jahrzehnte herabgesetzt ist. Kartoniert, 160 Seiten, ISBN 978-3-8017-2292-0. Göttingen: Hogrefe Verlag 2010. € 16.95
Peter Lehmann

Sibylle Muthesius: Flucht in die Wolken
»Flucht in die Wolken« ist die fesselnde Geschichte einer lebensfrohen, phantasievollen und beliebten Jugendlichen in der DDR, die sich 1971 (nach Elektro- und Insulinschocks, Isolierkammer und Neuroleptika) das Leben nahm; detailreich und (selbst-)kritisch rekonstruiert von der Mutter anhand der Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Fotos und gemalten Bilder der Tochter. Schrecklich und folgerichtig setzt sich so aus vielen kleinen alltäglichen Steinchen (Mangel an Zeit und Vertrauen, widrige Umstände in Schulen, Anstalten, Ämtern, Betrieben, Unverständnis, Ausgrenzung, Dummheit) die Mauer zusammen, die die Tochter von dieser Welt trennte. Sibylle Muthesius hat sich viel mit Literatur, Ethnologie, Psychoanalyse und Kunst beschäftigt, um im nachhinein zu verstehen, was in ihrer Tochter vorging. Sie zitiert große Dichter und ›schlaue Männer‹ und beschwört Parallelen herauf zu tragischen Figuren. Das finde ich zwar begreiflich, aber auch störend. Die Antworten liegen doch in den Worten und Bildern der Tochter. Kart., 533 S., viele Abb., 7. Aufl. 1992. Berlin: Morgenbuch Verlag Volker Spiess. DM 29.80
Kerstin Kempker

Joachim Mutter: Gesund statt chronisch krank! Der ganzheitliche Weg: Vorbeugung und Heilung sind möglich
Umfangreiche und übersichtliche Darstellung krankmachender Faktoren, insbesondere Stress, Amalgam, Umweltgifte, Nikotin, Impfungen, Elektrosmog, Lärm sowie Unterversorgung mit lebenswichtigen Mikro- und Makronährstoffen wie Vitaminen, Spurenelementen, Vitaminioden und nativen Eiweißen. Das Buch enthält zudem umfangreiche, an ausgesuchten Fallbeispielen dargestellte und über Symptomunterdrückung hinausgehende Lösungen, Therapiemöglichkeiten und Ausleitungsverfahren. Es ist geschrieben für Menschen, die an nicht psychisch bedingten Störungen aller Art – auch Depressionen und Psychosen – leiden und für behandelnde Ärzte und Heilpraktiker. Mit Kontaktadressen und Bezugsquellen. Gebunden, 456 Seiten, zahlreiche Abbildungen und Diagramme, ISBN 978-3-89881-526-0. Weil der Stadt: Fit fürs Leben Verlag in der NaturaViva Verlags GmbH 2009. € 29.90
Peter Lehmann

Joachim Mutter: Amalgam – Risiko für die Menschheit. Quecksilbervergiftungen richtig ausleiten
Ein übersichtlicher, verständlich geschriebener und existentiell wichtiger Ratgeber für Amalgambetroffene und -bedrohte. Er soll sowohl Hilfesuchenden als auch behandelnden Therapeuten wie Zahnärzten, Ärzten und Heilpraktikern das Problem Amalgam in seiner gesamten Tragweite – incl. die häufig mit Amalgambelastung verbundene Psychiatrisierung – verdeutlichen und Wege aufzeigen, Geschädigten umfassend zu helfen. Kartoniert, 169 Seiten, zahlreiche Abbildungen, ISBN 3-89881-522-6. Weil der Stadt: Fit fürs Leben Verlag in der NaturaViva Verlags GmbH, 3., erweiterte und aktualisierte Auflage 2002. € 14.95
Peter Lehmann

Dieter Naber / Martin Lambert (Hg.): Schizophrenie
Das Buch informiert ausgesprochen übersichtlich darüber, was in der biologischen Psychiatrie unter "Schizophrenie" verstanden wird, insbesondere über die vielfältigen Theorien der Entstehung, des Verlaufs und der Behandlung dieser psychiatrischen "Krankheit". Spezielle die Kapitel "Was hat sich in den letzten 5 Jahren verändert?", "Fazit für die Praxis"und "Mögliche Fehler und Probleme" geben einen prima Einblick in die Denkstrukturen des sich modern verstehenden Psychiaters. Frappierend ist das Auseinanderklaffen zwischen Wissenschaftsanspruch und dem Aneinanderreihen von Glaubenshaltungen, Theoriebruchstücken und unbelegten Behauptungen, wobei anzuerkennen ist, dass die Autoren – im Rahmen ihrer Möglichkeiten – immer wieder auf Teile ihrer Unzulänglichkeiten hinweisen. Dass sogenannte atypische Neuroleptika zeitgeistgemäß als besonders wirksam angepriesen werden, überrascht wenig – nicht zu vergessen sind hier Zeitungsberichte von Ende 2003, wonach der Herausgeber Dieter Naber und mit Michael Krausz, einer der im Buch vertretenen Autoren, eine sechsstellige Summe von einer Pharmafirma kassiert haben sollen, deren Präparate später in ihrer Anstalt verwendet wurden, weshalb die Hamburger Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Vorteilsannahme gegen die beiden ermittelt. Viel ist im Buch die Lobesrede von Langzeitverabreichung dieser Neuroleptika, speziell den neueren "atypischen". Atypische Rezeptorenveränderungen, die als Ursache für mittel- und langfristige Psychosenverstärkung gelten, sind den Autoren allerdings offenbar ebenso Fremdworte wie zum Beispiel der Begriff "Selbsthilfe". Pharmakogene Psychosenchronifizierung sichert psychiatrische Arbeitsplätze und Krankheitsvorstellungen und sind wenig geeignet, öffentlich kommentiert zu werden, und Selbsthilfe bedeutet dem Psychiater vermutlich soviel wie Weihwasser dem Teufel. Auffällig ist weiterhin die Ausgrenzung all dessen an Bewältigung "schizophrener" Konflikte, was außerhalb des beschränkten Sichtkreises des Anstaltspsychiaters stattfindet, sei es das Netzwerk Stimmenhören, das einen anderen Zu- und Umgang mit verstörenden Stimmen erarbeitet hat, oder beispielsweise die Tendenz zum selbstverantwortlichen und durchdachten Absetzen der verordneten Psychopharmaka. Angeregt durch die in Hamburg von Thomas Bock entwickelten Psychoseseminare haben die Psychiater jedoch mittlerweile, im Laufe vieler Jahre, erkannt, dass sich Patienten individuell voneinander unterscheiden, deshalb, so ihr Fazit, könnten Standarddosierungen notwendig sein (S. 101). Mein Fazit: Wenn gerade dies das Resultat von Psychoseseminaren ist, dann Gute Nacht. Gebunden, XIV + 203 Seiten, 17 Abbildungen, 52 Tabellen, ISBN 3-13-128251-7, Stuttgart & New York: Tieme Verlag 2004. € 59.95
Peter Lehmann

Dieter Naber / Franz Müller-Spahn (Hg.): Clozapin. Pharmakologie und Klinik eines atypischen Neuroleptikums. Eine kritische Bestandsaufnahme siehe unter Sammelrezension

Barbara Natterson-Horowitz / Kathryn Bowers: Wir sind Tier. Was wir von den Tieren für unsere Gesundheit lernen können
"Eine völlig neue Sicht auf unsere bepelzten und gefiederten Verwandten: klinisch depressive Gorillas, Rennmäuse, die sich nachts heimlich vollfressen, und von halluzinogenen Pilzen betörte Rentiere. Wir sind Tier eröffnet überraschende Perspektiven, was wir von der Tierwelt für unsere Gesundheit und über unsere Psyche lernen können."
So lautet der Werbetext zu "Wir sind Tier", einem 2012 in den USA und 2014 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch. Verfasst haben es Barbara Natterson-Horowitz, die Medizin und Psychiatrie studierte und heute Professorin für Kardiologie (Lehre vom Herzen inkl. Herz-Kreislauferkrankungen) und medizinische Beraterin des Zoos von Los Angeles ist, sowie Kathryn Bowers, Herausgeberin und Autorin zahlreicher populärer und akademischer Sachbücher und Dozentin an der University of California Medical Writing.
"Selbstverstümmelungen, Drogensucht, krankhaftes Hungern bis zum Tode (Anorexie), heißhungriges Überessen mit Erbrechen (Bulimie) und manch andere krankhafte Verhaltensweisen sind sicherlich nicht ›nur‹ psychische Erkrankungen", schreibt Josef Reichholf, ein Evolutionsbiologe und Professor für Ökologie, im Vorwort zu "Wir sind Tier". Rückkopplungen auf der Basis genetischer Disposition, dürfte die Antwort von Natterson-Horowitz und Bowers auf die Frage sein, was solche Störungen auch noch sein können; der Vergleich von Störungen, die bei Menschen und ähnlich bei Tieren vorkommen, würde eine solche Konsequenz nahelegen.
Bald schon beim Lesen wird klar, dass die beiden Autorinnen einen ausschließlich biologischen Erklärungsansatz für alle psychischen Auffälligkeiten haben. Ähnlich der Schweizer Psychiaterin Brigitte Woggon ("Alles, was wir fühlen, ist eben Chemie: seelenvoll in den Sonnenuntergang blicken, Liebe, Anziehung, was auch immer – alles sind biochemische Vorgänge, wir haben ein Labor im Kopf.") in der Weltwoche vom 8. Juni 2000 meinen sie: "Emotionen haben eine biologische Grundlage. Sie entstehen aus dem Zusammenspiel von Nerven und chemischen Botenstoffen im Gehirn." (S. 159) Immer und überall sehen sie genetisch bedingte endlose Transmitter-Rückkopplungsschleifen und Neuronennetzwerke, welche Verhaltensweisen belohnen, die die biologische Fitness steigern, die Art erhalten und somit eine Erklärung liefern für alles Befremdliche. Wer das Buch deshalb beiseite legt, verpasst allerdings viele interessante Informationen über psychische und physische Störungen und Auffälligkeiten bei Tieren. Zudem ist das Buch ausgesprochen unterhaltsam geschrieben.
Es befasst sich mit allen möglichen Krankheiten und Symptomen, die sowohl bei Tieren auch bei Menschen vorkommen können. Eine Handvoll Kongresse zum Thema "Zoobiquity" – so der amerikanische Originaltitel des Buches – gab es bisher, der letzte im April 2015 in Boston. Dort wurden die von Natterson-Horowitz angestoßene Diskussion fortgeführt, Aspekte der Gesundheit bei Mensch und Tier verglichen und alternative Diagnose- und Behandlungsansätze diskutiert, die sich aus dem Vergleich der Forschungsergebnisse bei unterschiedlichen Spezies ergeben. Humanwissenschaftler beispielsweise könnten Krankheitsbilder beim Menschen effektiver erforschen, wenn sie einbeziehen würden, was in der Veterinärmedizin oder in der Wildtierbiologie längst über das tierische Pendant bekannt ist.
Ein Beispiel ist die Takotsubo-Kardiomyopathie beim Menschen, eine lebensbedrohliche Herzerkrankung, ähnlich einem Infarkt, kurz "Takotsubo" genannt. Der Begriff leitet sich von einer japanischen Tintenfischfalle ab, die die Form eines Kruges mit kurzem Hals (Tako-Tsubo) hat und an die linke Herzkammer des Menschen am Ende der Kontraktionsphase des Herzmuskels erinnert. Der auch als "Gebrochenes-Herz-Syndrom" bekannte Symptomenkomplex, der mit plötzlichem Herztod nach emotionalen Erschütterungen einhergehen kann, wurde erstmals in den 1990er-Jahren als eigenes Krankheitsbild beim Menschen beschrieben. Lange hatte man über die Zusammenhänge gerätselt, während Veterinärmediziner längst eine vergleichbare Symptomatik kannten: die Fangmyopathie. Damit bezeichnen sie den plötzlichen Herztod eines Tieres, der durch schweren Stress, etwa durch das Gefangenwerden, ausgelöst wird. Natterson-Horowitz und Bowers erläutern, wie die entsprechende Symptomatik als Takotsubo-Kardiomyopathie beim Menschen zustande kommt:
"Bei diesen ansonsten absolut gesunden Menschen genügte eine heftige emotionale Erschütterung, um den Herzrhythmus von ruhig und gleichmäßig nach tückisch und tödlich zu verändern. Geschockt, panisch, verängstigt oder zu Tode betrübt, werden diese Patienten mit Stresshormonen, wie zum Beispiel Adrenalin, aus ihrem auf Hochtouren arbeitenden zentralen Nervensystem überflutet. Diese Katecholamine ergießen sich in den Blutstrom. Wie eine chemische Eingreiftruppe erscheinen sie auf der Bildfläche, um Kraft und Energie bereitzustellen und damit die Flucht zu ermöglichen. Doch statt den Patienten zu retten, kann der neuroendokrine (die Absonderung von Neurohormonen betreffende) Ansturm Plaques (Ablagerungen in den Blutgefäßen) aufreißen, eine Arterie mit einem Gerinnsel verschließen und einen tödlichen Herzinfarkt verursachen. Er kann im falschen Moment einen Extraschlag auslösen und das Herz in die Tachykardie (Herzjagen) schicken. Die chemischen Stoffe, die plötzlich in riesigen Mengen und alle auf einmal vorhanden sind, führen unter Umständen zu einer Vergiftung der Muskelzellen, die zwei Milliarden Herzmuskelzellen in einer menschlichen Herzkammer eingeschlossen. Bei diesen Patienten liegt die Gefahr im reaktiven Nervensystem selbst: Vollgepackt mit gefährlichen Katecholaminen (Transmitter wie Dopamin, Adrenalin und Noradrenalin), wartet es nur auf den Schrecken, der den Hebel umlegt.
Das geschieht bei Takotsubo. Egal ob der Auslöser ein schmerzhafter Verlust, ein verlorener Krieg, eine geologische Verwerfung oder ein unglücklich geschlagener Baseball war, die Katecholaminflut schädigt die Herzmuskeln, lässt die eigenartigen Vorwölbungen entstehen und verursacht manchmal gefährliche Arrhythmien (unregelmäßige Herztätigkeit). Aber Takotsubo ist nur ein kleiner Teil der Geschichte, wie sich herausstellte, als ich anfing, meine Beobachtungen mit denen von Veterinären zu vergleichen." (S. 186)
Und weiter: "Auch nicht direkt lebensbedrohliche Umstände können bei Menschen starke physiologische Reaktionen hervorrufen. Wenn das Flugzeug, in dem Sie sitzen, in 3000 Meter Höhe in ein Luftloch gerät und absackt, schütten Ihre Nebennierenrinde und Ihr Gehirn Katecholamine aus. Ihr Puls beschleunigt sich und Ihr Blutdruck steigt. Möglicherweise ist Ihnen sterbenselend. Und weil Sie sich der Situation nicht entziehen können, fallen die physiologischen Reaktionen Ihres Körpers noch heftiger aus, genau wie bei einem Tier, das seinem Fressfeind nicht mehr entkommen kann.
Ihr Gehirn verarbeitet die Gefahr, aber Ihr Körper produziert die Antwort. Die erhöhte Reaktionsbereitschaft mit dem flauen Gefühl im Magen, die Sie empfinden, ist Angst. Und Angst, so sagen die Veterinärmediziner, ist ein Schlüsselfaktor für die Fangmyopathie. Manche meinen sogar, es sei der wichtigste Einzelfaktor. Das bringt uns zu einem weiteren inneren Faktor, der zur Fangmyopathie beiträgt – dem aufgewühlten emotionalen Zustand eines gefangenen Tieres.
Wir haben gesehen, dass menschliche wie tierische Gehirne auf das Gefühl des Gefangenseins, der Ausweglosigkeit reagieren, manchmal sogar überreagieren. Möglicherweise geht das mit Vorstellungskraft ausgestattete menschliche Denkorgan noch einen Schritt weiter und löst auch bei Notsituationen, die nicht physischer Natur sind, Herzreaktionen aus: eine schwierige Beziehung, drückende Schulden, eine drohende Gefängnisstrafe. (...)
Die übermächtigen Angstreaktionen auf das Gefühl, in der Falle zu sitzen, stellen sich vermutlich ganz ähnlich dar, ob Sie nun, in der Haut eines Zebras steckend, einem finster dreinblickenden Kaffernbüffel ins Auge sehen müssen oder sich als Krimineller in Nadelstreifen das Gefängnisleben ausmalen. In der Tat zeigen verschiedene Studien, dass schwierige, ungerechte Chefs, negative, streitsüchtige Ehepartner und erdrückende Schulden das Risiko für einen Herztod beträchtlich erhöhen.
Angesichts des gewaltigen Schadens, den fehlender Handlungsspielraum und damit einhergehende Ausweglosigkeit bei Mensch und Tier anrichten können, überrascht es, dass es für diese Todesursachen keinen diagnostischen Fachbegriff gibt. (...)
Der Herzschlagmoment, mit dem mein Weg in die speziesübergreifende Betrachtungsweise begann, ereignete sich, als ich die Merkmale von stressinduziertem Herzversagen bei Menschen mit denen von Fangmyopathie bei Tieren abglich und viele Ähnlichkeiten entdeckte. Wenn Arzte bemerken, dass Symptome oder physiologische Befunde einem Muster folgen, stellen sie Syndrome zusammen, denen sie anschließend einen Namen geben. Veterinäre und Humanmediziner könnten darüber nachdenken, einen neuen Begriff zu schaffen, mit dem die Rolle der Angst bei der Fangmyopathie der Tiere und beim plötzlichen Herztod der Menschen beschrieben wird." (S. 194-196)
Wie die Fangmyopathie kann Takotsubo also zum plötzlichen Herztod führen. Die Erklärung von Natterson-Horowitz und Bowers liefert – mehr oder weniger ungewollt – Zündstoff für die Diskussion psychiatrischer Gewalt und Fixierung. Selbst der Medizinerin Natterson-Horowitz, die auch Psychiatrie studiert hat, ist nicht entgangen, dass unter Humanmedizinern die Diskussion der möglichen Risiken von Fixierungsmaßnahmen ansteht:
"Doch nachdem ich gesehen habe, wie Bewegungseinschränkungen bei Tieren das Risiko für einen Herzstillstand erhöhen, betrachte ich auch ihre Auswirkung auf menschliche Patienten mit anderen Augen. (...)
Ich hatte ›freiheitsentziehende Maßnahmen‹ immer als notwendige Sicherheitsvorkehrungen für bestimmte Patienten erachtet. Die sogenannte Fixierung gibt es auch in anderen Berufen – und sie wird häufiger angewandt, als Sie glauben. Weitverbreitet sind sie in amerikanischen psychiatrischen und geriatrischen (alterspsychiatrischen) Einrichtungen, wo Zwangsjacken und andere Formen der Fixierung manchmal für Patienten verwendet werden, die eine Gefahr für sich selbst und für andere darstellen. Polizei, Armee und Strafvollzug setzen allesamt auf Fesselungsinstrumente wie Handschellen, um renitentes Verhalten zu unterbinden.
Es gibt Szenarien, in denen die Einschränkung der Bewegungsfreiheit für alle Beteiligten das Beste ist. Ich weiß, dass es ebenso zum Wohle des Festgehaltenen sein kann wie zum Wohle von Polizei- und Vollzugsbeamten, Soldaten, Krankenpflegern und Krankenschwestern, ganz zu schweigen von unbeteiligten Zuschauern.
Bis ich erfuhr, dass Tierärzte die Bewegungseinschränkung für einen wichtigen Faktor bei der Fangmyopathie halten, hätte ich nie daran gedacht, dass das Fixieren eine physiologische Kehrseite haben könnte. Unter Humanmedizinern werden die möglichen Risiken von Fixierungsmaßnahmen kaum diskutiert." (S. 203)
Alleine wegen dieses Hinweises ist das Buch empfehlenswert. Dass es sich interessant liest, habe ich schon erwähnt. Zuletzt soll nach darauf hingewiesen sein, dass es sich – wie kaum bei einem anderen Sachbuch – dadurch auszeichnet, dass sämtliche medizinischen Fachbegriffe und Vorgänge in vorbildlicher Weise kurz und leichtverständlich erklärt sind; Leserinnen und Leser ohne jegliche medizinische Vorbildung können den anspruchsvollen Inhalt problemlos verstehen.
Aufgrund der Erkenntnisse von Natterson-Horowitz haben Zoos ihre Praktiken der Tierhaltung bereits geändert. Tiere sind wertvoll. Psychiatrische Patientinnen und Patienten weniger. Durch Zwangsgesetze und die Ausweitung der Diagnostik kann der Patientenbestand beliebig aufgefüllt werden, sollten die Objekte der Behandlung sterben – in panischem Zustand, verängstigt, geschockt und zu Tode betrübt, wenn sie merken, wie sie in der Geschlossenen in der Falle zu sitzen, fixiert, ausweglos, ohne Handlungsspielraum, infolge Thrombosen (Blutgerinnselbildung im Kreislaufsystem) und Embolien (plötzlicher Verschluss eines Blutgefäßes durch ein Blutgerinnsel). Seit Jahrzehnten findet man zu den genannten Wirkungen von Neuroleptika auf Venen und Arterien Publikationen in medizinischer Literatur (zusammengefasst in: P. Lehmann: "Schöne neue Psychiatrie", Band 2, Antipsychiatrieverlag 1996, S. 141-147), aber welcher Psychiater bildet sich schon auf dem Gebiet unerwünschter Behandlungsfolgen fort? Dass Vorschläge der Autorinnen ausbleiben, was das Unterlassen riskanter Fixierung und Behandlung von Psychiatriepatienten betrifft, ist schade, wenn auch eher nicht verwunderlich angesichts der psychiatrischen Ausbildung von Natterson-Horowitz. Aber man muss die ausbleibende Konsequenz ja nicht hinnehmen: Gerade bei den laufenden Diskussionen über menschenrechtsverletzende Zwangsbehandlung und Fixierung kann es ausgesprochen hilfreich sein, Erkenntnisse über die Vergleichbarkeit von Fangmyopathie und Takotsubo einfließen zu lassen, wenn man auf die Risikobehaftetheit und Gefährlichkeit psychiatrischer Zwangsmaßnahmen für das menschliche Herz aufmerksam macht. Vielleicht berührt das Argument der unkalkulierbaren Gefährdung durch Zwang und Fixierung ja eher, wenn es nicht nur um wehrlose Menschen geht, sondern auch um wehrlose Giraffen, Delfine und Papageien. [Hinweis: Die Erklärungen in kursiven Klammern stammen vom Rezensenten. Der Abdruck der Zitate erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Knaus Verlags.] Rezension im BPE-Rundbrief. Rezension in Leuchtfeuer – Journal des Landesverband Psychiatrie-Erfahrene Rheinland-Pfalz e.V. (Trier), Ausgabe 20 (2016), S. 95-96. Gebunden mit Schutzeinschlag, 447 Seiten, ISBN 978-3-8135-0554-2. München: Knaus Verlag 2014. € 22.99
Peter Lehmann

Stefan Nellen / Martin Schaffner / Martin Stingelin (Hg.): Paranoia City – Der Fall Ernst B. Selbstzeugnis und Akten aus der Psychiatrie um 1900
Kern dieses Buches bilden handschriftlich erhaltene Selbstzeugnisse von Ernst B., der wegen einer als "Paranoia" diagnostizierten "Krankheit" einen großen Teil seines Lebens in Irrenanstalten verbringen musste. In einem Text, den Herr B. mit "Meine Erlebnisse" überschreibt, schildert der 1856 geborene Mann Erfahrungen und Fragmente aus seiner Lebensgeschichte, eine Kette verwirrender Umstände und verstörender Ereignisse. Er glaubt sich durch mächtige Herren verfolgt, die ihn mittels Hypnose manipulieren – was nicht ohne Realitätsbezug ist, war er doch die letzten 19 Jahre seines Lebens in der Psychiatrie untergebracht. Die Herausgeber haben diesen Text transkribiert, ebenso wie weitere Akten aus dem Staatsarchiv Basel (Gerichtsprotokolle, Anstaltsakten), die seine "Fall"-Geschichte nachvollziehbar machen. Es handelt sich um ein ungewöhnliches persönliches Zeugnis, das über sich hinausweist und ungewohnte Perspektiven auf eine turbulente Phase der Stadtgeschichte Basels eröffnet. Sechs Essays kommentieren diese Dokumente aus der Zeit um 1900 und rücken sie in ihre zeitgeschichtlichen Kontexte. Gebunden. 226 Seiten, 16 Abbildungen, ISBN 978-3-7965-2275-8. Basel: Schwabe Verlag 2007. € 29.50
Peter Lehmann

Peter Netz: Psychisch kranke alte Menschen und soziale Unterstützung. Vom Bürger zum Heimbewohner oder warum psychisch kranke alte Menschen in ein Heim übersiedeln
Dissertation, die sehr akademisch durch den Vergleich zweier 16köpfiger ›Fallgruppen‹ nachweist, dass ›psychisch kranke‹ alte Menschen nicht wegen ihrer ›psychischen Krankheit‹, sondern wegen fehlender sozialer Unterstützung in Pflegeheimen landen. Wen wundert's. Psychopharmakologisch bedingte Persönlichkeitsveränderungen und Leistungseinbußen sind allerdings ohne Begründung außer acht gelassen. Kart., 230 S., Frankfurt am Main: Mabuse Verlag 1997. DM 38.–
Peter Lehmann

Klaus-Jürgen Neumärker: Der andere Fallada – Eine Chronik des Leidens
Rudolf Ditzen alias Hans Fallada (1893-1947), Autor von Romanen wie »Wer einmal aus dem Blechnapf frisst« oder »Jeder stirbt für sich allein«, war offenbar eine ausgesprochen zwiespältige Persönlichkeit: Ehemann, Vater, Schriftsteller und gleichzeitig Trinker, verhinderter Doppelselbstmörder, Morphinist, Denunziant, Kleinkrimineller. Dies brachte Fallada in seinen 53einhalb Lebensjahren viermal ins Gefängnis, dreimal in psychiatrische Anstalten und 23 Mal in sogenannte Heilstätten für Nerven- und Gemütskranke. Jürgen Neumärker, seit 1981 Inhaber eines Lehrstuhls an der Berliner Humboldt-Universität und bis 2005 Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an den DRK Kliniken Berlin-Westend, arbeitete sich intensivst durch die Massen an psychiatrischen Akten, verfasst von in der Psychiaterschaft hochgeschätzten Männern, und sonstigen Dokumenten über Fallada, so auch Briefe seiner Angehörigen. Unter Einbeziehung der Dokumente über Falladas nichtpsychiatrisches Leben und seiner schriftstellerischen Tätigkeit zeichnet Neumärker ein »anderes« Portrait von Fallada: das eines »haltlosen, konstitutionell psychopathisch agierenden« Mannes. Wer sich für Fallada interessiert, die Sprache der herrschenden Psychiatrie erträgt und die von Neumärker durchaus nicht unreflektiert wiedergegebenen Aktenauszüge mit psychiatriekritischem Blick zu lesen versteht, findet in dem Buch Massen an Informationen darüber, wie das Leben Falladas mitsamt seinen Eskapaden über Jahrzehnte hinweg verlief und zwischendurch immer wieder von Psychiatern dokumentiert wurde. Rezension im BPE-Rundbrief. Gebunden, 416 Seiten, 82 Abbildungen, ISBN 978-3-941683-49-5. Berlin: Edition Federchen im Steffen Verlag 2014. € 26.95
Peter Lehmann

Meinolf Noeker: Subjektive Beschwerden und Belastungen bei Asthma bronchiale im Kindes- und Jugendalter
Dissertation eines Psychologen über die häufigste chronische Krankheit bei Kindern und Jugendlichen, wegen der Gewichtung der Aussagen der Kinder für betroffene Eltern interessant. Viel Statistik und Methodik, eine empirische Untersuchung eben, bei der man sich brauchbare Ergebnisse herauspicken muss. Kartoniert, 227 Seiten, Frankfurt/M.: Peter Lang 1991, DM 69.–
Kerstin Kempker

Ursula Nuber (Hg.): Bin ich denn verrückt? Was Psychotherapie für Frauen leistet und was nicht
Die Psychologin Nuber ist Redakteurin bei »Psychologie heute«, und auf diesem Niveau bewegen sich auch die Beiträge der anderen Autorinnen, zumeist Psychologinnen. Es ist eines der wenigen Bücher, die ich ohne Bleistift lese, weil ich zwar oft innerlich nicke, aber meist die Achseln zucke: ja, und? Ich lese es, wie ich eine alte Stulle mit Margarine esse oder einen Krimi nach Schema F anschaue, nebenbei; es gibt keine Ideenwürze, nichts, was im Kopf hängenbleibt, keine Anregung, kein Stachel. Für jemanden, der oder die gar nichts anderes zu lesen hat und sich zum ersten Mal mit der Frage »Therapie – ja oder nein« befasst, mag's hilfreich sein, sich die sehr verständlichen, mit Beispielen verzierten und in großen Lettern gedruckten Kapitel – angefangen bei Eva: »Krankheitsursache: Weibliches Geschlecht« über Therapieerfahrungen bis zu »Therapie: die riskante Chance« – reinzuziehen. Am Ende gibt es ein kleines Bonbon, die unterhaltsame Schimpfrede auf »Therapie: die größte Trickbetrügerei« von Fay Weldon, der begnadeten Autorin von »Die Teufelin«, »Frau im Speck« u.v.a. Kart., 186 S., 16 Abb., Stuttgart: Kreuz Verlag 1994. DM 29.80
Kerstin Kempker

Rita Nussbaumer / Theo Vogel: Düfte für Körper und Seele. Grundlagen der Aromatherapie
Die 40 wichtigsten ätherischen Öle in einem Grundlagenwerk zur Aromatherapie. Wer sich damit verwöhnen will, findet hier die notwendigen Informationen in ausführlichen Steckbriefen mit den therapeutischen Wirkungen, Anwendungsmöglichkeiten und Rezepturen. Gebunden, 157 Seiten, 40 vierfarbige Aquarelle, ISBN 3-935407-03-3. Weil der Stadt: Natura Viva Verlag 2005. € 19.90
Peter Lehmann

Cyrille Offermans: Warum ich meine demente Mutter belüge
Der Autor reflektiert seine Bemühungen, mit der Persönlichkeitsveränderung seiner älter werdenden Mutter, ihrer immer verzerrter werdenden Wirklichkeitswahrnehmung, ihrer zunehmenden Vergesslich-, Zwanghaftig- und Starrköpfigkeit und ihrer Neigung zu Alkohol klarzukommen, und rechtfertigt seine offenbar alternativlosen Versuche, ihr mit List, Lügen und Betrug einigermaßen humane Lebensbedingungen zu sichern, so dass sie so lange in ihrer Wohnung bleiben kann, bis dann doch die Verlegung ins Heim (unter der Vorspiegelung, nur vorübergehend zu einer Untersuchung dableiben zu sollen) nötig wird. Ein ehrlich geschriebenes Buch über die vertrackten Probleme vieler Menschen mit ihren hinfällig werdenden Eltern in modernen Lebensverhältnissen. Gebunden mit Schutzumschlag, 127 Seiten, ISBN 978-3-88897-485-4. München: Antje Kunstmann Verlag 2007. € 14.90
Peter Lehmann

Heide Olbrich-Müller: Ist die Welt denn noch zu retten. Mein Leben mit Psychosen
Nicht gerade glücklich verheiratet in der ehemaligen DDR mit einem alkoholabhängigen Mann und von seiner Mutter und Ex-Frau gegeneinander ausgespielt, entwickelt die Autorin, eine ehemalige Bibliothekarin, jetzt Rentnerin, irgendwann Panikattacken. Wir haben 1985, die DDR wird noch vier Jahre existieren. Verständnis, auch nur Interesse für ihre Probleme, findet sie nirgendwo, speziell nicht in der Psychiatrie, in der sie bald landet und Psychopharmaka bekommt. Alles nimmt seinen psychiatrischen Gang, raus, rein, raus, neue Probleme, Albträume, Psychosen etc. Der Mann trinkt weiter, flieht über Ungarn/Österreich in die BRD, sie folgt über die Deutsche Botschaft in Prag, beide nehmen ihre Probleme mit. Von ihrer Trennung berichtet sie, von neuen Männern und gescheiterten Beziehungen, Überforderung und Ausbeutung an diversen Arbeitsplätzen, insgesamt zwölf Psychiatrieaufenthalten und Psychosen bis 2012, über deren Inhalte die Autorin Aufzeichnungen angefertigt hatte. Sie berichtet von einem Suizidversuch, um sich zu opfern und die Welt zu retten, sowie von diversen "Neben"-Wirkungen und dann auch noch einem Schlaganfall. Durch eine Fügung, so schreibt sie, stößt sie auf Dorothea Bucks Buch "Auf der Spur des Morgensterns". Sie stellt sich die Frage, warum es immer so weit kommen musste, dass ihre Beziehungen mit Psychosen enden und warum es ihr nicht auch gelingen sollte, psychosefrei zu leben. Im Oktober 2005, es war ihre neunte Psychose, sagten ihr die Psychologin und der Stationsarzt, denen sie Aufzeichnungen aus ihrem angefangenen Buch zu lesen gegeben hatte, sie sollte es doch zu Ende schreiben. Das hat sie nun geschafft, Gratulation! Sie versteht es als Befreiungsschlag und Versuch, zum Verstehen von Psychosen beizutragen. In der Einschätzung von ihren Psychosen schwankt sie bis zuletzt: mal sieht sie sie als verzweifelte Versuche des Gehirns oder der Seele, Unerträgliches zu bewältigen, mal als etwas, das man in der akuten Phase mit Psychopharmaka schnell wieder neutralisieren sollte. Gut, dass sie sich nicht festgelegt hat, sollte doch diese Entscheidung jeder für sich selbst treffen – sofern Psychiater nicht mit gewaltsamer Verabreichung von Neuroleptika und Elektroschocks dazwischenhauen und eine Auseinandersetzung mit dem Sinn von Verrücktheitszuständen zunichte machen. Rezension im BPE-Rundbrief. Taschenbuch, 170 Seiten, ISBN 9-783-945346-29-7. Bilshausen: Fabuloso Verlag Gudrun Strüber 2015. € 11.80
Peter Lehmann

Ingrid Olbricht: Was Frauen krank macht. Der Einfluss der Seele auf die Gesundheit der Frau
Die Chefärztin einer Psychosomatischen Abteilung schreibt gut lesbar und eingehend über körperliche Besonderheiten und Beschwerden von Frauen, eingeteilt nach Lebensphasen. Maßvoll kritisch zu männlich-ärztlicher Diagnostik, Verschreibungs- und OP-Praxis. Ganzheitlicher, psychotherapeutischer Ansatz. 288 S., München: Kösel Verlag 1993. DM 34.–
Kerstin Kempker

Michel Onfray: Anti Freud – Die Psychoanalyse wird entzaubert
Nach Jeffrey Massons grundlegenden Buch "Was hat man dir, du armes Kind getan" liegt mit "Anti-Freud" eine Folge-Abrechnung mit Sigmund Freud vor, diesmal geschrieben von dem ehemals glühenden Freudianer Michel Onfray. Weder habe Freud das Unbewusste alleine entdeckt, noch stellten Fehlleistungen und Träume den Königsweg zum Unbewussten her, noch sei die Psychoanalyse eine wissenschaftliche oder emanzipatorische Disziplin, die Aussagen über Dritte jenseits ihres Erfinders zulasse, noch ermögliche die Couch die Heilung von Psychopathologien, noch führe das Bewusstmachen einer Verdrängung mechanisch zum Verschwinden von Symptomen, noch gebe es einen universellen Ödipuskomplex, noch seinen Klienten, die Widerstand gegen ihre Psychoanalyse leisten, deshalb neurotisch. Freud habe gelogen, kaschiert, an seiner eigenen Legende gearbeitet, lediglich aus den Defiziten seiner eigenen Person das Brimborium Psychoanalyse als vermeintlich wissenschaftliche Methode entwickelt. Auf über 500 gut lesbaren Seiten und durch Quellen belegt zeigt Onfray den Freudismus als schamanisches Vermächtnis eines reaktionären Frauenhassers und postmodernen Hexenmeisters aus Wien. Gebunden mit Schutzumschlag, 540 Seiten, ISBN 978-3-8135-0408-8. München: Albrecht Knaus Verlag 2011. € 24.99
Peter Lehmann

Judith Orloff: Jenseits der Angst. Eine Ärztin findet den Weg zu ihren außersinnlichen Fähigkeiten
Buch in der Tradition Grofs und anderer, die dafür plädieren, nur echten ›Schizophrenen‹ Psychopharmaka zu verabreichen (Psychiaterin Orloff sinnbildlich: »Bestimmte Personen haben ein grundsätzliches biochemisches Ungleichgewicht in ihrem Gehirn, das dazu führt, dass einige Drähte in ihrem Inneren sich überkreuzen.«), die eigene Lieblingsgruppe von ›Patienten‹ – in diesem Fall psychiatrisierte Menschen mit seherischen Fähigkeiten – mit Zuwendung und Verständnis zu bedenken. Geb., 463 S., München: Heyne Verlag 1997. DM 36.–
Peter Lehmann

Linda Orth / Yonka Dutschewska-Kothes / Wolfgang Klenk / Volker Roelcke / Barbara Wolf-Braun: »Pass op, sonst küss de bei de Pelman« – Das Irrenwesen im Rheinland des 19. Jahrhunderts
Das Buch versteht sich als Beitrag zur Sozialgeschichte speziell des um die Bonner Landes-›Klinik‹ gelegenen Raums. 5 Profis, meist psychiatrisch Tätige, arbeiteten Archive durch und präsentieren nun ihre Arbeit über die »Dame Psychiatrie« – gemäß einem liebevoll gemeinten Ausspruch des ehemaligen Anstaltsleiters Carl Pelman. Es sei der Versuch unternommen worden, die Psychiatriegeschichte aus der Sicht der Beteiligten und Betroffenen darzustellen. Aus der Sicht der Beteiligten: dies ist gelungen, wenn damit die psychiatrisch Tätigen gemeint sind. Aus der Sicht der Betroffenen: da keine am Buch mitgeschrieben haben, ist mir schleierhaft, wie die AutorInnen diesen Anspruch eingelöst haben wollen. Das Buch bietet viel Material, wie primitiv-brutal die Psychiatrie damals war, und belegt diese Aussage mit vielen Fotos und sonstigen Originaldokumenten. Ein klare Aussage, aus der so etwas wie Mitgefühl für die Behandelten deutlich geworden die und über die sachliche Darstellung der psychiatrischen Gewalt hinausgegangen wäre, habe ich allerdings vermisst. Fast ausnahmslos sind es Weißkittel, die (in Dokumenten und Zitaten) zu Wort kommen, dabei bin ich überzeugt, dass in den Archiven der Anstalten auch viele Beschwerdebriefe und Anklagen der Untergebrachten liegen, die zu solch einer Veröffentlichung unbedingt dazugehörten. Aber diese historischen Beschwerden über die traditionellen primitiv-brutalen Psychiatriemaßnahmen hat man offenbar ebensowenig ernst genommen, wie man dies heutzutage mit den Beschwerden über die modernen psychopharmakologischen Maßnahmen handhabt. Kart., 176 S., 92 Abb., darunter viele Faksimile, Bonn: Verlag Grenzenlos e.V. 1996. DM 24.80
Peter Lehmann


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