FAPI-Nachrichten
Das Internet-Magazin für antipsychiatrische Rezensionen.
U Z
Hier gelangen Sie direkt zu den Autorinnen und Autoren bzw. Herausgeberinnen
und Herausgebern, deren Namen mit den Buchstaben A
C | D
F | G
K | L
O | P
T beginnen. Zurück zu
A Z
Die Preisangaben beziehen sich auf den Tag, an dem die Rezension
verfasst wurde. Sie müssen heute nicht mehr gültig sein.
zuletzt aktualisiert am 27. August 2023
Michael Uhlmann / Petra Uhlmann: Was bleibt... Menschen mit Demenz.
Porträts und Geschichten von Betroffenen
Mit kurzen Porträts und Geschichten versehener Bildband von Menschen
mit Demenz, der hilft, sie trotz ihrer Einbußen an kognitiven Fähigkeiten
als Menschen mit ihren Wünschen nach Anerkennung und Wertschätzung,
nach Trost und Einbezogensein, nach sinnvoller Betätigung und Liebe
wahrzunehmen und ihre Würde zu sichern. Das Buch erschien mit finanzieller
Unterstützung von: Weleda AG, Janssen-Cilag GmbH, BHF-Bank-Stiftung
und Hannoversche Kassen. Trotzdem ein schönes Buch. Gebunden, 103
Seiten, über 100 großformatige Schwarz-Weiß- und Farbphotographien,
ISBN 978-3-938304-62-4. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag, 2., erweiterte
Auflage 2007. € 24.90 Peter Lehmann
örg Utschakowski: Mit
Peers arbeiten Leitfaden für die Beschäftigung von Experten
aus Erfahrung
Jörg Utschakowski, diplomierter Sozialarbeiter, Psychiatriereferent
in Bremen und Initiator des EU-Projekts EX-IN, hat eine an psychiatrische
Organisationen gerichtete Arbeitshilfe für die Anleitung und Integration
von EX-INlern verfasst. Sie hilft, organisatorische Rahmenbedingungen
zu klären, Aufgaben- und Arbeitsprofile der Peers zu erstellen und
Integrationspläne zu erarbeiten. Weitere Themen sind die Kooperation
von Genesungsbegleitern mit anderen psychiatrisch Tätigen, Fortbildungen,
Gremienarbeit, Praktika, Gehalt, Personalbedarf, Förderung der Dialogkultur,
Mentoren und Peersupervision. Der Autor spricht das Problem der Finanzierung
der Ausbildung an und das Problem von blinden Flecken, die bleiben, wenn
der eigene Erfahrungsschatz (bei EX-INlern) Grenzen aufweist und Unverstandenes
zurücklässt. Der Leitfaden soll helfen, Recovery und Empowerment
in der Alltagspraxis zu festen Bestandteilen werden zu lassen. Wie das
gehen soll, wenn die Bereiche "strukturelle Verweigerung einer Aufklärung
über Behandlungsrisiken und -alternativen", "Erholung von psychiatrischer
Behandlung", "Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie", "Machtgefälle
in der Psychiatrie", "Psychiatrie als Ordnungsmacht", "Schäden durch
Elektroschocks", "vorenthaltene Therapie behandlungsbedingter Traumata"
und "vorenthaltene Hilfen beim selbstbestimmten Absetzen von Psychopharmaka"
komplett ausgeklammert bleiben, bleibt dem Leser allerdings verborgen.
Dass ausgerechnet EX-INler die großen Probleme der strukturellen
Menschenrechtsverletzungen sollen, kann natürlich kein Mensch erwarten.
Doch wäre es nicht eine Fürsorgepflicht in der Ausbildung und
im Beschäftigungsleitfaden, die genannten Themen als ungelöste
Probleme für die Arbeitspraxis zu benennen? So dass die EX-INler,
wenn sie sich erwartungsvoll in die Praxis begeben, wissen, welchen Grenzen
ihrem Engagement gesetzt sind, und sie nicht bei jedem Konflikt vor die
Wand rennen? Aber wer würde sie mit einem kritischen Praxiswissen
überhaupt noch einstellen? Also werden im Leitfaden und in der Ausbildung
beschränkte Wege erkundet und der begrenzte Entscheidungshorizont
im sozialpsychiatrischen Sinn erweitert, damit die Klienten und Klientinnen
der EX-INler selbstbestimmte Entscheidungen treffen können. Ein Kerngedanke
von EX-IN sei, "... dass wir alle im Grunde wissen, was hilfreich ist."
Diese Aussage verwundert: Wer definiert, was nach allgemeinem Wissen hilfreich
ist? Gar hilfreich für alle? Sind wir nicht alle verschieden
so selbst eine gängige sozialpsychiatrische Losung , haben
also unterschiedliche Bedürfnisse? Ist es nicht bekannt, dass das,
was der eine für sich als hilfreich definiert, vom anderen als Qual
empfunden werden kann? Sind blinde Flecken vielleicht nicht nur bei den
Ausgebildeten vorhanden? Genesungsbegleiter hätten das Potenzial,
so der Ausblick des Autors, die Psychiatrie zu bereichern und sie hilfreicher
für die Betroffenen zu machen und mehr Respekt und Würde in
die Psychiatrie einziehen zu lassen. Sein Optimismus ist lobenswert. Die
Praxis wird zeigen, ob und wann Respekt und Würde mit dem Einzug
in die Psychiatrie beginnen. Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 88 Seiten, ISBN 978-3-88414-625-5. Köln:
Psychiatrie Verlag 2015. € 19.95 Peter Lehmann
Jörg Utschakowski / Gyöngyvér
Sielaff / Thomas Bock (Hg.): Vom Erfahrenen zum Experten Wie Peers
die Psychiatrie verändern
Buch über das Ex-In-(Experienced-Involvement-)Projekt, das heißt
die Ausbildung von Psychiatriebetroffenen zur Peer-Arbeit ("Arbeit
von Gleichen für Gleiche") innerhalb psychiatrischer Einrichtungen.
Drei Profis haben dieses Buch herausgegeben, das sich mit der Ausbildung
von Psychiatriebetroffenen für die Peer-Arbeit (Gleiche helfen Gleichen)
beschäftigt: Jörg Utschakowski, Gyöngyvér Sielaff
und Thomas Bock. Jörg Utschakowski ist Sozialarbeiter, er sei in
verschiedenen europäischen Netzwerken tätig, steht im Buch.
Das Europäische Netzwerk von Psychiatriebetroffenen, der größte
unabhängige Verband in Europa, der schon seit Jahren betroffenenkontrollierte
Peer-Ausbildung fordert, taucht allerdings nirgendwo im Buch auf. Gyöngyvér
Sielaff ist Diplom-Pädagogin und Mitgründerin von Irre Menschlich
Hamburg e.V. Zu den Sponsoren dieses Vereins zählen u.a. die Pharmamultis
Eli Lily und AstraZeneca GmbH. Der Psychologe Thomas Bock ist ebenso Mitgründer
von Irre Menschlich, daneben mitverantwortlich für das Internetportal
www.psychose.de; AstraZeneca ist auch hier der Sponsor. Diese Rahmenbedingungen,
die nicht ohne Einfluss auf die Ex-In-Ausbildung und die Haltung zur biologisch-psychopharmakologischen
Psychiatrie sein dürften, werden im Buch nicht erwähnt, deshalb
sollen sie dieser Rezension vorangestellt sein. Nun zum Buch. Psychiatriebetroffenheit
ist keine Qualifikation, die einen zum Experten an sich macht, ansonsten
wäre der Psychiater derjenige, der mit seiner der Psychiatrisierung
vorhergehenden Diagnose Experten kreiert. Das Thema Schulung von Psychiatriebetroffenen
ist überfällig, denn viele Psychiatriebetroffenen maßen
sich an, alleine auf Grund einer vorangegangenen Psychiatrisierung als
Experte anerkannt zu werden, der für alle möglichen, über
die eigene Person hinausgehenden Aufgaben in der Arbeit mit Betroffenen
oder für diese qualifiziert ist. Oder trialogbegeisterte psychiatrisch
Tätige benutzen ihnen genehme Betroffene als "Experten",
wenn sie in einem Gremien Betroffenenbeteiligung mimen wollen. Was macht
Betroffene zu Experten? Wer bildet aus? Wer erarbeitet den Lehrplan? Werden
Konfliktpunkte und Interessenseinflüsse deutlich? Sind die für
Psychiatriebetroffenen wesentlichen Inhalte ausgewogen enthalten? Wer
bildet die Ausbilder aus? Wie wird verhindert, dass Peer-Arbeit nicht
zum bloßen Erfüllungsgehilfentum psychiatrische Macht Ausübender
verkommt? Können bei einem Träger psychiatrischer Einrichtungen
angestellte Peer-Arbeiter unabhängig arbeiten? Bekommen sie überhaupt
eine Arbeit, und werden sie dafür auch bezahlt? Und wenn ja, gibt
es mehr als die übl(ich)e Aufwandsentschädigung? Wie sieht die
Arbeit konkret aus? Definieren die Peer-Arbeiter ihre Arbeit als hilfreich?
Obwohl im Psychiatrieverlag erschienen, schließt das Buch auch antipsychiatrische
Erfahrungen wie das Weglaufhaus Berlin ein, ebenso viele internationale
Erfahrungen. Besonders wertvoll erscheint mir der Artikel "Der Wert
der Erfahrung" von Harrie van Haaster vom Amsterdamer Instituut
voor Gebruikersparticipatie en Beleid (IGPB www.igpb.nl), in
dem er sich mit der Qualifikation von "Experten durch Erfahrung" befasst
und den Fragen, welche Kriterien für "Sachkenntnis durch Erfahrung"
formuliert werden können, um einen Schutz vor Missbrauch und unangemessenen
Ratschlägen zu gewährleisten, und wie ein erfahrungsbasierter
Forschungsansatz zwecks Nachweis für die Wirksamkeit entwickelt werden
kann. Angesichts der projektierten Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen
in die sogenannte integrierte psychosoziale Versorgung (z.B. in Form von
Mitarbeit in Krisenpensionen) ein wichtiges Buch, um die Diskussion über
die Antworten auf die dargestellten Fragen zu beginnen. Wenn die internationale
Betroffenenbewegung und auch der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener
e.V. in Antidiskriminierungsprogrammen wie dem Harassmentprojekt (siehe
www.peter-lehmann-publishing.com/articles/enusp/empfehlungen.pdf)
die Unterstützung von Initiativen im Peer-coaching fordern, die wirksame
Teilnahme geschulter Psychiatriebetroffener in allen möglichen Bereichen
und Trainingsangebote für Psychiatriebetroffene, und sich selber
gegen Diskriminierung zu schützen, um als Betroffene in allen Bereichen
angestellt zu werden und um in Programmen zur Bekämpfung von Diskriminierung
und Schikane selber Trainerin oder Trainer zu werden und um in Kriseneinrichtungen,
Beratungsstellen und Forschungsprojekten mitzuarbeiten, ist es höchste
Zeit, sich Gedanken zu machen, wie die eigenen Forderungen umgesetzt werden
können und wie man sich konstruktiv kritisch mit vorhandenen konkreten
Erfahrungen auseinandersetzen kann. Das Buch ist ein guter Ansatzpunkt,
in die Diskussion einzusteigen. Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 240 Seiten, 1 Abbildung, 2 schwarz-weiße
Fotos, ISBN 978-3-88414-470-1. Köln: Psychiatrie-Verlag 2009. €
24.95 Peter Lehmann
Jörg Utschakowski / Gyöngyvér
Sielaff / Thomas Bock / Andréa Winter (Hg.): Experten aus Erfahrung
Peerarbeit in der Psychiatrie
Das Buch, die Neuausgabe der 2009 erschienenen Publikation "Vom
Erfahrenen zum Experten Wie Peers die Psychiatrie verändern",
soll Leitungskräfte, Kostenträger, engagierte Praktiker, Psychiatrieplaner
und Genesungsbegleiter animieren, der Weiterentwicklung von Peerarbeit
eine Chance zu geben. Die 24 Autorinnen und Autoren empfinden Peerarbeit
als Instrument der Veränderung der psychiatrischen Praxis. Im Buch
wird Peerarbeit definiert, die Probleme bei ihrer Implementierung werden
beschrieben, die Ausbildung wird thematisiert, Erfahrungen im stationären
und ambulanten Bereich in Deutschland, Österreich und der Schweiz
werden wiedergegeben. Herausgestrichen wird die Funktion der Peerbegleitung,
das Selbstvertrauen psychiatrischer Patienten in die eigenen Kräfte
und Möglichkeiten zu stärken. Weitere Themen sind Fortbildung
und Forschung unter aktiver Einbeziehung von Betroffenen. Grundlage von
alledem ist die typische sozialpsychiatrische Haltung: Alles in der Psychiatrie
dient den Patienten, die Psychiatrie ist im Wandel, alles wird noch besser,
Psychiatrisch Tätige werden durch Genesungsbegleiter befähigt,
ihre therapeutischen Erfolge gar zu verstärken, gemeinsam und auf
gleicher Augenhöhe schreiten Profis, Angehörige und Betroffene
solidarisch zu Achtsamkeit, Empowerment, Recovery, Lebenszufriedenheit.
Beim Lesen des Buches denke ich an meine eigene katastrophale Psychiatriegeschichte.
Wie gut wäre es gewesen, einen Peerberater an meiner Seite gehabt
zu haben, der meine Familie, Freunde und mich darauf hingewiesen hätte,
dass es noch andere Interpretationen der unangenehmen Psychopharmaka-Wirkungen
außer "Nebenwirkungen", also nebensächliche Begleitumstände
der "Medikation", gegeben hätte. Der mich auf die Existenz von Alternativen
zur Psychiatrie, zumindest die Möglichkeit des Weglaufens hingewiesen
hätte. Der mir und meinen Angehörigen Literatur zum risikoarmen
Absetzen von Psychopharmaka genannt hätte. Der der ständig im
Raum stehenden Abwertung meiner lebensgeschichtlich bedingten Verrücktheit
als Symptom schwerer psychischer Krankheit basierend auf biopsychosozialer
(Stoffwechsel-) Störung etwas Hoffnungsvolles und tendenziell Sinngebendes
entgegengesetzt hätte, gerne untermalt mit eigener konstruktiver
Krisenbewältigung! Wäre es nicht schön, solch engagierte
Peerberater in Kliniken und Anstalten anzutreffen? "Die Betroffenen (also:
wir) wissen oft, dass Medikamente manchmal hilfreich und notwendig sein
können", schreibt die Genesungsbegleiterin Gwen Schulz aus Hamburg
in ihrem Buchbeitrag. Was sie selbst macht und was ihre Kollegen machen,
wenn sie die Psychopharmaka als nicht hilfreich und überflüssig
sehen, bleibt leider unerwähnt. Was passiert bei mangelhafter Aufklärung,
bei unterlassenen Vorsorgeuntersuchungen? Was, wenn Elektroschocks im
Raum stehen? Was bei Zwangsbehandlung mit ihren so oft traumatisierenden
Folgen? Einzig die Wiener Psychiaterin Michaela Amering erwähnt Probleme
und Machtkämpfe mit den etablierten Systemen, die unvermeidlich seien,
allerdings bleibt ihr Hinweis abstrakt. Doch wie stellt sich das Machtgefälle
für Peerarbeiter dar, insbesondere im Konfliktfall, welche Lösungswege
sind vorgesehen im Patienteninteresse, können Peerarbeiter mit eigener,
abweichender Meinung auf irgendeine unterstützende Instanz hoffen?
Ist dies eine Funktion gemeinsamer Supervision? Gibt es diesbezüglich
erste Erfahrungen? Ärzte befürchten eine mögliche Unterwanderung
der Psychopharmaka-Verabreichung, so die Schweizerin Barbara Blickle,
Dr. med. mit eigener Krisenerfahrung und Genesungsbegleiterin, nach einer
von ihr durchgeführten Studie in der psychiatrischen Privatklinik
Meiringen in ihrem Buchbeitrag "Erwartungen und Befürchtungen
psychiatrischer Fachpersonen bezüglich Beschäftigung von Peers
in psychiatrischen Institutionen". Peers so die durchaus nicht
unbegründete Furcht von "Fachpersonen" könnten
aufgrund eigener schlechter Erfahrungen die ärztliche Behandlung
missbilligen und boykottieren, insbesondere die Medikation. Die mehr als
fragwürdige, im Buch von Gyöngyvér Sielaff mit einem
aus dem vorletzten Jahrhundert stammenden maternalistischen Ton vorgetragene
Vorstellung, auszubildende Peer-Arbeiter seien ihre Klienten, die es durch
die Peer-Ausbildung zu therapieren gelte, sollte alle hellhörig,
die allzuviel von Peer-Ausbildung erwarten, die von psychiatriekonformen
Ausbilderinnen und Ausbildern gelehrt wird. Ich wünschte mir einen
Beitrag im Buch, der sich mit der Frage beschäftigt, wie eigene negative
Erfahrungen mit der Psychiatrie in das beschworene Erfahrungswissen von
Genesungsbegleitern eingehen und wie die Peerarbeit dann aussieht. Bleibt
dieses zentrale Thema ausgespart, besteht die Gefahr, dass der Eindruck
entsteht, Genesungsbegleiter würden den Sozialarbeitern in ihrer
Rolle als "Sozialmäuschen" nachfolgen. Dies wäre eine Tragödie
angesichts des Blumenstraußes an Möglichkeiten, der der Peerarbeit
innewohnt, und angesichts der Masse unverstandener, schutz- und wehrloser
Patientinnen und Patienten, die von der Arbeit engagierter Genesungsbegleiter
profitieren könnten. Rezension
im BPE-Rundbrief. Gebunden, 295 Seiten, ISBN 978-3-88414-582-1. Bonn:
Psychiatrie-Verlag, 2., vollständig überarbeitete Neuausgabe
2016. € 29.95 Peter Lehmann
H. van Andel, W. Pittrich (Hg.): Kunst und Psychiatrie
Kongress in Münster 1.-5. Oktober 1990. Tagungsbericht. Über
den Einsatz von Kunsttherapie in Anstalten, die Ausweitung der »diagnostischen
Nutzung der Ergebnisse« und so wichtige Fragen wie, »ob man
die Therapie mit kreativen Mitteln eher als Kreativtherapie
oder eher mit dem üblicheren Begriff als Kunsttherapie
bezeichnen soll. Die Diskussion blieb unentschieden, obwohl sich eine
leichte Vorliebe für die Bezeichnung Kreativtherapie
abzeichnete. Die Art der Debatte machte deutlich, dass man in diesem Fall
für deutsche Begriffe von einem wahren Erdrutsch sprechen konnte.«
Solche Erkenntnisse haben ihren Preis. Kartoniert, 348 Seiten, Münster:
Lit 1991. Kerstin Kempker
Willem van der Does: Licht am Ende
des Tunnels. Gib der Depression keine Chance wie wir aus der Melancholiefalle
herausfinden
Buch über Depressionen, wie sie nach Meinung des Psychiaters van
der Does entstehen ("unverkennbar eine genetische Komponente"),
wie man sie gut behandelt (vor allem mit Antidepressiva aller Art, Elektroschocks,
kognitive Verhaltenstherapie). Und einer Auseinandersetzung über
eine mögliche suizidfördernde Wirkung von Antidepressiva mit
der primitiven Abqualifizierung der Argumente des kritischen US-amerikanischen
Psychiaters Peter Breggin, er sei "umstritten", als sei dies
ein inhaltliches Argument und gelte nicht für alle Vertreter dieser
Berufsgruppe. Das Buch endet mit "nützlichen" Adressen,
unter anderem dem Kompetenznetz Depression, von dem man sich dann auch
Elektroschocks und Antidepressiva empfehlen lassen kann. Selbsthilfegruppen
bleiben außen vor. Und zu guter Letzt dann noch eine persönliche
Erklärung des Autors, er habe in den letzten zehn Jahren von pharmazeutischen
Industrien kein Sponsoring erhalten; was die Zeit davor betrifft, spricht
er nicht an, ebensowenig all die meinungsbildenden Publikationen, die
im Auftrag und mit dem Geld von Pharmafirmen produziert und deren Inhalte
weitergegeben werden, als wären sie wertfreie Wahrheit. Gebunden,
159 Seiten, mit vielen netten Illustrationen von Peter van Straaten, ISBN
978-3-0350-0053-5. Zürich: Oesch Verlag 2009. € 14.90 Peter Lehmann
Roland Vauth / Rolf-Dieter Stieglitz: Chronisches Stimmenhören
und persistierender Wahn
Die Autoren, Psychiater und Psychotherapeuten der Universität Basel,
konzentrieren sich nach einer knappen Abhandlung der Diagnostik und Störungstheorien
auf die kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung chronisch "schizophrener
Störungen". Ausführlich und mit vielen Beispielen aus Literatur
und Praxis beschreiben sie Techniken und Übungen, die den Betroffenen
helfen, sich von ihren Wahninhalten zu distanzieren. Grundlagen sind:
Vertrauen und Sicherheit in der therapeutischen Beziehung (verbindlich,
geregelt, transparent), gemeinsames Problemverständnis, Normalisieren
statt Stigmatisieren, Trennung von Erleben und Tatsachen, Zusammenhang
zwischen Wahn und Biografie. Das leuchtet ein, ist aber nicht zu verwechseln
mit tatsächlicher persönlicher Anteilnahme: "Intensivierung
von Vertrauen durch Vermittlung von Interesse an der Person des Patienten
(z.B. auf Hobbys des Patienten eingehen und ggf. auch zunächst gemeinsame
Aktivitäten planen, bis die Beziehung steht)." Kartoniert, VI + 110
Seiten, mit 2 Einsteckkarten, ISBN 978-3-8017-1861-9. Göttingen:
Hogrefe Verlag 2007. € 19.95 Kerstin Kempker
Andrea Virani: Seelischer Marathon.
Eine ungewöhnliche Lebensgeschichte
Die Autorin, die für ihr Buch ein Pseudonym benutzt, hatte es in
ihrem Leben, speziell in ihrer Kindheit in Baden-Württemberg nicht
leicht. Ihr Vater machte sich früh vom Acker und entzog sich seiner
Verantwortung, ihre Mutter landete wegen schlimmer Lebensbedingungen unter
der Diagnose Schizophrenie immer wieder in der Psychiatrie, wo sie dann
auch zu Tode kam (was die Autorin allerdings nicht mit der Behandlung
in Verbindung bringt). So wuchs sie in wechselnden Pflegefamilien auf,
erlebte mehrmals sexuellen und psychischen Missbrauch, scheiterte später
immer wieder an Männerbeziehungen auf der vergeblichen Suche nach
einer liebevollen Vaterfigur, wie sie selbst schreibt. Diese Liebesprobleme,
die wie in ihrem Leben auch im Buch einen großen Raum
einnehmen, brachten immer wieder seelische Abstürze und "psychische
Dekompensation" einschließlich Psychiatrisierung hervor, auch
eine Abtreibung mit sich, und alles mit der Konsequenz, dass sie Therapien
macht, als dissoziative Persönlichkeitsgestörte diagnostiziert
wird, Suizidversuche unternimmt, von ihrer Betreuerin finanziell geschröpft
wird, mit Paranoia und Psychosen immer wieder in die Psychiatrie gebracht
wird oder selbst dorthin geht, eingesperrt und fixiert wird, Neuroleptika
und Lithium bekommt, übergewichtig wird, kataton wird, elektrogeschockt
wird. Aber all das nimmt die Autorin hin, und letztendlich ist sie Sozialverbänden
und Tageskliniken dankbar, dass sie bei der Suche nach einer Wohnung für
die Zeit danach unterstützt wird, auch dann, als sie endlich einen
liebenswerten Mann findet und heiratet. Diesen, ein Stimmenhörer
mit eigener psychiatrischer Problematik, kann sie pflegen, und in der
Hinwendung zum katholischen Glauben, einer (nicht näher beschriebenen)
Selbsthilfegruppe, im Malen und der Anschaffung eines Hundes findet der
Bericht ein für sie versöhnliches Ende, auch wenn ihr Leben
angesichts einer zunächst vielversprechenden beruflichen Karriere
mit abgeschlossenem Studium und Hochbegabtenförderung ganz anders
als erhofft verlief. Jetzt will die Autorin ähnlich Betroffenen Mut
und Hoffnung machen, trotz dieser Psychiatriegeschichte ist für sie
mit ihrem starken Überlebenswillen ein lebenswertes Leben möglich.
Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 214 Seiten, ISBN 978-3-96200-010-3.
Kirchheim: Verlagshaus Schlosser 2017. € 12.90 Peter Lehmann
John Virapen: Nebenwirkung Tod
Korruption in der Pharma-Industrie. Ein Ex-Manager packt aus
Ein Ex-Pharmamanager, der mit skrupellosen Bestechungen von Ärzten,
Gutachtern und Regierungsvertretern rasant Karriere machte, noch rasanter
gefeuert wurde und den just in dem Moment, wo er gefeuert ist, Reue und
Empörung erfassten, schreibt über Korruption und Verschleierungspraktiken
in der Pharmaindustrie, über den Pharmakonzern Eli Lilly und dessen
Strategien zur Vermarktung von Prozac (Fluctin) und Zyprexa sowie über
die eigene Verstrickung in diese Geschäfte. "Nebenwirkung Tod"
ist bereits das zweite Buch des Autors; das erste war das notdürftig
als Fiktion verpackte "Rubio spuckt's aus", das der Autor unter
dem Namen John Rengen publiziert hatte und aus unerfindlichen Gründen
in diesem neuen, trotz des beibehaltenen etwas marktschreierischen amerikanischen
Erzählstils lesenswerten Buch nicht erwähnt. Wann erfährt
man schon etwas aus dem Inneren der pharmakologischen Giftküchen,
die das zubereiten, was dann in der Psychiatrie und vielen Bereichen der
Medizin als "segensreiche Medikamente" verabreicht wird? Kartoniert,
267 Seiten, 3 schwarz-weiße Abbildungen, ISBN 978-3-86695-920-0.
Leipzig: Neuer Europa Verlag 2008. € 16.90 Peter Lehmann
Rubina Vock / Manfred Zaumseil / Ralf B. Zimmermann / Sebastian Manderla:
Mit der Diagnose "chronisch psychisch krank" ins Pflegeheim? Eine Untersuchung
der Situation in Berlin Auseinandersetzung mit der Abschiebung von "psychisch Kranken"
in Heime aus der Sicht von Professionellen. Die Autoren zeigen anhand
einer großen Studie, an der bis zu ihrem Tod auch Hannelore
Klafki mitgearbeitet hatte, wie die gegenwärtige Vermehrung von
Heimplätzen für sogenannte psychisch Kranke einen Belegungssog
erzeugt, der die typischen Entscheidungen begünstigt: über die
Köpfe der Betroffenen hinweg und abhängig von Umständen,
die eher mit Problemen des "Versorgungs"-Systems als mit den
Betroffenen selber zu tun haben. Kartoniert, 469 Seiten, ISBN 978-3-938304-73-0.
Frankfurt am Main: Mabuse Verlag 2007. € 39. Peter Lehmann
Werner Vogd: Das Bild der Psychiatrie in unseren Köpfen. Eine
soziologische Analyse im Spannungsfeld von Professionellen, Angehörigen,
Betroffenen und Laien
»Wie stellt sich die Psychiatrie heute dar, was kann sie leisten
und was könnte sie leisten? Wodurch sind diese Bilder motiviert?
Gründen sich diese auf persönliche Erfahrungen, Erzählungen,
diffuse Ängste oder Vorurteile?« Diesen Fragen widmet sich der
Autor in dem recht teuren Buch, das aus einem Forschungsseminar an der
Universität Ulm und anschließend am Institut für Soziale
Medizin an der FU Berlin hervorging. Unter den vielen Befragten ist immerhin
eine Psychiatriebetroffene. Und einer der Teilnehmern an den Forschungspraktika
war Karl-Heinz Esser vom Gesamtvorstand des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener,
so war gewährleistet, dass nicht völlig an dieser Personengruppe,
eigentlich dem Subjekt der Psychiatrie, vorbeigeforscht wurde. Die geringe
Zahl mitwirkender Betroffener spiegelt deren Rolle in der Gesellschaft
wider; das gleiche (Miss-)Verhältnis findet sich bei der Abhandlung
des Kapitels Antipsychiatrie, das zudem alle neueren Publikationen außer
acht lässt. Aber man wird bescheiden und freut sich, wenn immerhin
das 1983 publizierte und weit vorausblickende Buch von Tina Stöckle,
»Die Irren-Offensive«, erwähnt wird und eine positive Würdigung
findet. Das Buch stammt aus der soziologischen Diskussion, dennoch ist
es gut lesbar wahrlich keine Selbstverständlichkeit. Es beleuchtet
die wesentlichen Fragen (Gewalt, Psychopharmaka/Elektroschocks/Therapie
ja oder nein?) breit und unaufgeregt, und es enthält sich dankenswerterweise
der ätzenden Wertungen, die man von anderen sozialpsychiatrisch ausgerichteten
Publikationen zur Genüge kennt. Das Schlussplädoyer, wonach
die Psychiatrie den Hilfesuchenden als medizinisch-therapeutische Institution
erscheinen solle, andererseits ihre Zwangsbehandlung als »medizinische
Intensivbehandlung«, sofern therapeutisch begründet, »in
einigen akuten Krisenzuständen indiziert« sei, zeigt das Dilemma
der Psychiatrie und einen der wesentlichen Gründe für ihr schlechtes
öffentliches Ansehen: Ohne Eintreten für einen wirksamen Schutz
vor psychiatrischer Zwangsbehandlung sind alle Versuche zwecklos, ihr
Bild in der Öffentlichkeit zu verschönern. Leider leiden unter
diesem von Gewalt geprägten Bild und eben nicht nur unter
dem Bild! auch die Betroffenen. Kartoniert, 214 Seiten, Berlin:
Verlag für Wissenschaft und Forschung 2001. € 34. Peter Lehmann
Irmgard Vogt / Eva Arnold: Sexuelle Übergriffe in der Therapie
Anleitungen zur Selbsterfahrung und zum Selbstmanagement Wie soll ich mich als Therapeut verhalten, wenn ich merke, dass ich
mich in meine Klientin verliebe? Wo finde ich ethische Standards, an denen
ich mich orientieren kann? Ein sinnvolles Manual, das Therapeuten und
Beratende mit dem Thema der eigenen sexuellen Befriedigung innerhalb therapeutischer
Beziehungen konfrontiert und ihnen Hilfe zur Prävention an die Hand
gibt. Das Buch enthält 5 Kapitel: Erörterung der gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen; Erörterung der Anforderungen an die Professionalität
der Beratenden und Therapierenden incl. ethischer Richtlinien und straf-
und zivilrechtlicher Bedingungen (Stand von 1993); Daten und Fakten aus
epidemiologischen Forschungen incl. Übungsaufgaben; Folgen sexueller
Übergriffe für die Betroffenen und Probleme der Nachfolgebehandlung
incl. Übungsaufgaben; Ergebnisse zur Täterforschung. Mit einem
Literaturverzeichnis im Anhang, der Berufsordnung des Berufsverbands Deutscher
Psychologen e.V. sowie den Ethischen Richtlinien und dem Verhaltenskodex
für PsychologInnen der American Psychological Association in deutscher
Übersetzung. Übersichtlich und klar geschrieben. Kartoniert,
IV + 103 Seiten, ISBN 10: 3-87159-401-6, ISBN 13:978-3-87159-401-4. Tübingen:
DGVT Verlag 1993. € 16. Peter Lehmann
Jochen Vollmann (Hg. unter Mitarbeit
von Jakov Gather und Astrid Gieselmann): Ethik in der Psychiatrie. Ein
Praxisbuch
Sammelband mit an Ethik orientierten Beiträgen kritischer Geister
(u.a. Margret Osterfeld, Tanja Henking, Gudrun Tönnes), aber auch
solchen, die übliches psychiatrisches Handeln gutheißen. Schon
in seiner Einleitung beklagt sich der Herausgeber Jochen Vollmann, Psychiater
und Lehrstuhlinhaber für Ethik und Geschichte der Medizin, von vielen
psychiatrisch Tätigen sei ihre rechtliche Situation als unangemessen
empfunden worden, nachdem das deutsche Bundesverfassungsgericht wesentliche
Teile der gesetzlichen Regelungen zur Zwangsbehandlung für verfassungswidrig
erklärt und außer Kraft gesetzt hätte. Kein Wort darüber,
welch Ethikverständnis in der Psychiatrie herrschte (und herrscht),
wenn jahrzehntelang gegen das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit
verstoßen werden konnte, ohne dass dies irgend jemanden dieser "Ethiker"
aufgefallen ist. Und auch kein Wort darüber, was die psychiatrischen
Menschenrechtsverletzungen für die Betroffenen bedeuteten und bedeuten,
welche Schadenersatzforderungen ihnen (eigentlich) zustehen und wie die
Behandler zivil- und strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen wären.
Mit seiner Anmaßung, das Buch behandle alle derzeit ethisch
relevanten Probleme psychiatrischen Handelns, belegt er seinen Drang nach
Deutungshoheit des Problemgebiets "Psychiatrie, Ethik und Ethikverstöße".
Er entscheidet die Spannbreite ethischer Probleme in der Psychiatrie.
Dieser Anspruch auf Deutungshoheit ist zwar üblich, aber dennoch
peinlich. Ein konkretes Beispiel hierfür ist der Artikel über
Vorausverfügungen, den Vollmann mit seiner Kollegin Astrid Gieselmann
schrieb, wo sie betroffenenorientierte Verfügungen wie die Psychosoziale
Patientenverfügung und Berichte Betroffener über Erfahrungen
mit Vorausverfügungen schlicht ignorieren und lieber auf US-amerikanische
Psychiateraussagen verweisen. Und Bedenken äußern, was Schlimmes
passieren könnte, wenn sich Patienten gegen Haldol oder Elektroschocks
aussprechen; dies könnte schwerwiegende Konsequenzen haben. Schwerwiegende
Konsequenzen einer Option für Haldol und Elektroschocks? Kein
Thema für die Möchtegern-Ethiker. Kartoniert, 239 Seiten, ISBN
978-3-88414-666-8. Köln: Psychiatrieverlag 2017. € 30.
Peter Lehmann
Katrin von Consbruch / Ulrich Stangier:
Ratgeber Soziale Phobie Informationen für Betroffene und Angehörige Etwas dröger Ratgeber mit Hinweisen, wie Menschen mit sozialen
Ängsten selbstbewusstes Verhalten in sozialen Situationen erlernen
können. Er verzichtet auf eine kritische Beleuchtung der Frage nach
dem Zusammenhang zwischen Entwicklung der Diagnose "Soziale Phobie"
durch die WHO und die mit ihr verquickte Pharmaindustrie, die für
die im Buch erwähnten Antidepressiva einen expandierenden Absatzmarkt
möchte. Dankenswerterweise weisen die Autorin und der Autor dezent
auf die nicht nachgewiesene Wirksamkeit dieser Substanzen (auch) bei Menschen
mit sozialen Ängsten hin. Nichtssagend und stereotyp sind allgemeine
Verweise auf mögliche genetische Vorbelastungen ebenso wie auf Gehirnaktivitäten;
die beobachtete stärkere Aktivierung bestimmter Gehirnregionen unter
Stresseinfluss werden flugs umgedeutet in die Vermutung einer Kausalität,
als wären soziale Ängste Folgen von Gehirnveränderungen.
Wer diese unsinnigen Passagen im Buch übersteht, findet schließlich
vernünftige, an der kognitiven Verhaltenstherapie orientierte Anregungen
zur Selbsthilfe, verbunden mit Fallbeispielen, Übungen und Arbeitsblättern.
Kartoniert, 83 Seiten, ISBN 978-3-8017-2092-6. Göttingen: Hogrefe
Verlag 2010. € 9.95 Peter Lehmann
Dörte
von Drigalski: Blumen auf Granit. Eine Irr- und Lehrfahrt durch die deutsche
Psychoanalyse
Psychoanalyse und Kritik Psychoanalyse-Kritik. Die Psychoanalyse
ist bis heute dadurch ausgezeichnet, dass ihre Erfolgsquote sich schwerlich
objektivieren lässt, folglich ist darüber trefflich streiten.
Sie tritt aber auch durch ihren kritischen Duktus, ihre Intellektualität,
die philosophische Tiefe ihrer Konzepte und Diskussionen hervor. Die Psychoanalyse
erfreut sich des Rufes kritisch zu sein, ja sie gilt als radikal gesellschaftskritisch.
Dass sie genuin auf eine ganz reale Praxis zielt und daran zu messen wäre,
mag da so manchem schon als zu vernachlässigende Größe
erscheinen. Wie unangenehm wird von solch hoher Warte aber ein handfeste,
verstehende Kritik an ihrem Vorgehen wirken, die sich nicht mit dem Hinweis
auf die Untauglichkeit des Therapierten, der Tiefe seiner Konflikte und
Ähnlichem abspeisen lässt? "Blumen auf Granit" von Dörte
von Drigalski ist insofern eine Ausnahme geblieben. Sie hat das Wagnis
auf sich genommen, diese Kritik nicht wiederum zu objektivieren: Soll
heißen, sich und die ihr widerfahrene Beleidigung und Traumatisierung
durch eine psychoanalytische Lehranalyse hinter einer begrifflich aufgeladenen
Fachdiskussion dieses oder jenes Theorems zu verstecken. Statt dessen
liefert sie in "Blumen auf Granit" zugleich mit fachlich informierten,
psychoanalytischen Reflexionen den Bericht ihrer eigenen Lehrtherapie.
Ihre Verfahrensweise macht sie verletzlich, muss die durch die Analyse
verursachte Demütigung genauso thematisieren wie ihre eigene Geschichte,
den Inhalt der Analyse. Als von Drigalski sich als junge Ärztin auf
den Weg der Psychoanalyse begab, wollte sie den objektivierenden Automatismen
des normalen deutschen Krankenhausbetriebes in den sie eingebunden
war durch die Hinwendung zu einer die seelische Dimension des Menschen
würdigende Wissenschaft etwas entgegensetzen. Über die ihr auf
diesem seelischen Feld zugefügten Verletzungen zu berichten, denke
ich mir als Kraftakt und intellektuelles Wagnis sondergleichen. Es nimmt
deshalb nicht wunder, dass von Drigalski selbst gezögert hat, den
von der Psychoanalyse gepflegten Idealismus bezüglich der Weisheit
des Analytikers, seinen uneigennützigen Zielen etc ... abzulegen
und ihren Bericht und andere Berichte von ähnlich katastrophalen
Analysen eher als typisch denn als seltene Ausnahmen zu begreifen. Dieses
Buch bleibt ein unverzichtbares Korrektiv. Ich wünschte, ich vermöchte
es jedem intellektuellen oder praktischen Psychoanalyse-Freund unters
Kopfkissen zu hexen. Taschenbuch, 352 Seiten, ISBN 978-3-925931-37-6.
Berlin: Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, aktualisierte Neuausgabe
2003. € 16.90 Benjamin Sage
Vormundschaftsgerichtstag e.V. (Hg.): 4. Vormundschaftsgerichtstag
vom 12. bis 15. Oktober 1994 in Friedrichsroda. Materialien und Ergebnisse
Alle Grundsatzreferate, Protokolle der Arbeitsgruppen und verabschiedeten
Ergebnisse der Tagung »Betreuungsrecht in der Praxis Traum
oder Alptraum« der reformorientierten VormundschaftsrichterInnen,
BetreuerInnen und übrigen an der Durchführung des Betreuungsrechts
Beteiligten. Kart., 200 S., Köln: Bundesanzeiger Verlags GmbH 1995.
DM 68. Peter Lehmann
Sylvia Wagner: Arzneimittelversuche
an Heimkindern zwischen 1949 und 1975
In ihrer Dissertation, die der Mabuse Verlag 2020 als Buch publiziert
hat, befasste sich die Pharmazeutin Sylvia Wagner mit Neuroleptikaversuchen
an Heimkindern in bundesdeutschen staatlichen und konfessionellen Einrichtungen
(Fürsorgeerziehung, Kinder- und Jugendheime, heilpädagogische
sowie kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen). Ihre Ergebnisse
ordnete sie in ihren historischen, ethischen, rechtlichen und soziologischen
Kontext ein. Dabei kam sie zum Ergebnis, dass es sich in aller Regel um
wissenschaftlich dilettantisch angelegte und zudem gesetzeswidrige, allerdings
für die Täter juristisch folgenlose Experimente von Medizinern
handelte verübt an wehrlosen verhaltensauffälligen Kindern.
Es galt herauszufinden, wie diese am besten mit Neuroleptika gefügig
gemacht und ruhig gestellt werden können. Informationen fand die
Autorin in medizinischen Zeitschriften, in Datenbanken, in Anstaltsakten,
im Archiv der Pharmafirma Merck und bei Betroffenen.
An Beispielen zeigt die Pharmazeutin, wie verantwortungslos die Täter
ihre Neuroleptika getestet haben und wie die Kinder unter den Substanzen
gelitten haben. Ihr Buch wirft somit ein grelles Licht auf ein verdrängtes
Kapitel der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und trägt zur Aufarbeitung
von Gewalt in der damaligen Heimerziehung bei. Wie die Autorin nachweist,
gab es in keinem der von ihr untersuchten Fälle ein informiertes
Einverständnis oder eine vor Versuchsbeginn durchgeführte Nutzen-Risiko-Analyse.
Nach den damaligen rechtlichen Grundlagen (Grundgesetz, StGB und ggf.
Richtlinien von 1931) sowie ethischen Rahmenbedingungen (Nürnberger
Kodex bzw. Deklaration von Helsinki) sei dies aber zwingend erforderlich
gewesen.
Dass ein Ausblick auf die heutige Kinder- und Jugendpsychiatrie fehlt,
in der in aller Regel (wie auch in der Erwachsenenpsychiatrie) weiterhin
ohne informierte Zustimmung gearbeitet wird (eine umfassende Aufklärung
über unerwünschte Wirkungen der verabreichten Substanzen und
über Alternativen unterbleibt), ist dem Charakter der pharmaziehistorischen
Arbeit geschuldet: Psychiatrische Menschenrechtsverletzungen werden für
Historiker in der Regel erst nach ca. einem halben Jahrhundert interessant.
Nichtsdestotrotz ist das Buch insgesamt erhellend und empfehlenswert.
Ein paar kritische Worte muss ich aber loswerden. Sylvia Wagner führt
die durch Neuroleptika ausgelösten Muskelkrämpfe auf »Überdosierungen«
zurück. Dies ist sachlich falsch. Diese Störungen treten bekanntlich
(auch) unter sogenannten therapeutischen Dosierungen auf. Viel schlimmer
ist, dass die Autorin trotz ihres löblichen Forschungsansatzes, auch
nach einer Kontinuität aus der Zeit des Nationalsozialismus zu suchen,
das letzte Wort ausgerechnet dem Psychiater Hanfried Helmchen als »Zeitzeugen«
überlässt. Im Anhang der Arbeit im Schlusssatz
darf der Mann sagen, er habe »gelernt, wie schwierig oder unmöglich
die Beurteilung der Motive von Menschen vergangener Zeiten ist.«
Das von Helmchen zu hören, verwundert wenig, ist er doch ein Schüler
von Felix von Mikulicz-Radecki, einem exponierten Propagandisten von Massensterilisationen
zu NS-Zeiten, und von Helmut Selbach, Oberarzt unter Max de Crinis, einem
Protagonisten des psychiatrischen T4-Massenmords. Es soll wohl so sein,
dass die Taten seiner Kollegen in der Vergangenheit verschwinden, ohne
dass sie als das gebrandmarkt werden, was sie sind, nämlich als schlichte
Verbrechen, begangen von rücksichtslosen und machtbesessenen Ärzten.
Und dass wir den Blick dafür verlieren, dass um es mit Bertolt
Brecht zu sagen der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das
kroch. Kein geringerer als der Historiker Götz Aly war es, der in
seinem Artikel »Herr Professor Hanfried Helmchen und das Menschenexperiment«
in der taz vom 1. Juli 1982 diesen Psychiater, noch heute Mitglied im
Ethik-Beirat der deutschen Psychiaterorganisation DGPPN, zu Wort kommen
ließ, allerdings mit einem deutlichen und kritischen Kommentar versehen:
Würden Nicht-Mediziner oder Behörden Versuche an Menschen kontrollieren,
so Helmchen, könnten diese »... von der Industrie als ökonomisch
nicht mehr vertretbar abgelehnt werden. Letztendlich müsse
die Entscheidung beim Arzt verbleiben (...), ob er einen Patienten in
eine klinische Prüfung einbezieht und in welchem Umfang, wenn überhaupt,
er ihn hierfür aufklärt.« (Nachzulesen im Internet unter
www.antipsychiatrieverlag.de/artikel/recht/pdf/herrprofessor.pdf)
War es nicht exakt diese Einstellung, die den Arzneimittelversuchen an
Heimkindern zwischen 1949 und 1975 zugrunde lag? Rezension in SeelenLaute
/ Rezension in Soziale Psychiatrie.
Kartoniert, 243 Seiten, 4 Abbildungen, 9 Tabellen, ISBN 978-3-86321-532-3.
Frankfurt am Main: Mabuse Verlag 2020. € 34.95 Peter Lehmann
William J. Walsh: Psychische Erkrankungen
anders behandeln. Gezielte Therapie mit Mikronährstoffen natürlich
und nebenwirkungsfrei
Aufgrund genetischer und umweltbedingter Faktoren komme es zu einem Nährstoff-Ungleichgewicht.
Die jüngsten Fortschritte der Gehirnforschung hätten molekularbiologische
Wurzeln vieler psychischer Erkrankungen identifiziert. Fälschlicherweise
habe man diese bisher traumatischen Erfahrungen zugeordnet. Auch Psychopharmaka
könnten eine Normalisierung der Gehirntätigkeit herbeiführen,
hätten aber auch unerwünschte Wirkungen. Mikronährstoffe
dagegen würden bei Schizophrenie, Depression, Autismus, ADHS, Verhaltensstörungen
usw. usf. das chemische Ungleichgewicht nebenwirkungsfrei im Körper
ausgleichen, insbesondere Kupferüberschuss, Vitamin-B6-Mangel, Zinkmangel,
Methyl-Folat-Missverhältnisse, Übermaß an oxidativem Stress
und Unausgewogenheiten bei den Aminosäuren. Am Schluss des Buches
bedankt sich der Autor, ein US-amerikanischer Doktor der Philosophie,
bei den 30.000 Patienten, die er untersuchen durfte. Daran, dass der Sozialwissenschafter
William Walsh viele Menschen auf Stoffwechselstörungen untersuchte,
ist nicht zu zweifeln. Von mir aus kann er auch 300 Millionen Patienten
untersucht haben, sofern sie nicht abgezockt wurden. Hätte er recht
mit seinen Schlussfolgerungen, könnte man alle Selbsthilfe- und Psychotherapieanstrengungen
einstellen. Es ginge mal wieder nur noch darum, die richtige Pille einzuwerfen,
und alle Probleme wären gelöst. Leider hat sich bei mir bisher
noch niemand der auf diese Weise Geheilten gemeldet. Das muss aber auch
nichts heißen, möglicherweise hört man von dieser Personengruppe
nichts, da sie jetzt alle wohlbehalten, unauffällig und ohne psychiatrische
Probleme leben. Wer Geld übrig hat und von einer Stoffwechselstörung
in seinem oder ihren Fall überzeugt ist, kann die Walsh'sche Nährstofftherapie
ja mal ausprobieren. Vielleicht stimmt ja wenigstens, dass sie
vom Einstellen eigener Selbsthilfe- und Psychotherapieanstrengungen abgesehen
keine unerwünschten Wirkungen mit sich bringt. US-Amerikanisches
Original 2012. Kartoniert, 285 Seiten, ISBN 978-3-8673-1181-6. Kirchzarten:
VAK Verlags GmbH, 2. Auflage 2017. € 19.99 Peter Lehmann
Therese Walther:
Die »Insulin-Koma-Behandlung« Erfindung und Einführung
des ersten modernen psychiatrischen Schockverfahrens
Eine paradigmatische Fallgeschichte medizinisch-psychiatrischer Forschung.
Zu den wenigen Vorurteilen, auf die wir äußerst ungern verzichten,
gehört der Glaube, dass medizinische Anwendungen, seien es medikamentöse
oder andere Therapien auf geprüften theoretischen Voraussetzungen
beruhen. Therese Walthers Untersuchung der Insulin-Koma-Behandlung kann
jedoch paradigmatisch zeigen, dass dies ausgerechnet in dem sensiblen
Bereich des medizinischen Umgangs mit seelischen Problemen mitnichten
der Fall ist. Obwohl den Medizinern, die die Insulin-Koma-Behandlung praktiziert
haben, das enorme Risiko dieser "Therapie" anhand der lebensbedrohlichen
Zustände ihrer Patienten unmittelbar vor Augen stehen musste, glaubten
sie nicht auf eine Methode verzichten zu können, der von Anfang an
jeder brauchbare theoretische Unterbau fehlte. Die zunächst in Fachkreisen
wegen dieses Makels verrissene Therapie erfreute sich anschließend
in der gesamten westlichen Welt größter Beliebtheit und gehörte
noch bis in die 1960er-Jahre zu den bevorzugten Arten der Behandlung sogenannter
Schizophrenien. Andererseits handelt es sich hier auch nicht um eine Anwendung,
deren Theorie zwar ungesichert ist, deren Praxis aber um so erfolgreicher
verläuft: Die vollmundig gepriesenen Heilerfolge waren wie
Therese Walther dokumentiert so unsicher, dass da, wo die Behandlung
zur Anwendung kam, oft mit abweichenden Verfahren oder der gleichzeitigen
Verabreichung anders wirkenden Substanzen gearbeitet wurde. Was diese
Methode schließlich verdrängt haben dürfte, sind weder
ihre fraglichen Erfolge, noch ihre von den meisten "Behandelten" als grausamste
Folter empfundenen "Nebenwirkungen" sondern die Aufwändigkeit ihrer
Durchführung: Die nun einsetzende "Pharmakologische Revolution" konnte
eine weitgehende Kontrolle der Behandelten bei sehr viel geringeren (Personal-)
Kosten garantieren. Therese Walther gelingen in ihrer gut recherchierten
Studie tiefe Einblicke in das psychiatrisch-medizinische Forschungsverständnis.
So führt sie beispielsweise einen Fachartikel aus dem Jahre 1994
an, der die Insulinbehandlung u. a. mit Hinweis auf die "offenkundigen
therapeutischen Chancen" der durch die Behandlung "erzwungene Regression
auf elementare Stufen menschlicher Bedürfnisbefriedigung" empfiehlt.
Dieser Hinweis dürfte auf die körperlichen und seelischen Begleiterscheinungen
dieser "Wunderwaffe" zielen, welche von den Behandelten einhellig als
grausame Misshandlung beschrieben worden sind (Vgl. Weitz: My Insulin
Shock Torture und Kempker:
Mitgift). Aber, wird man sich vielleicht fragen, ist diese
Methode nicht heute schon weitgehend obsolet? Ja, sie ist aus den genannten
Gründen aus der Mode gekommen, aber keineswegs widerlegt. Und das
ist auch prinzipiell nicht möglich, da sie nie auf theoretisch gesicherten
Hypothesen beruhte, die eindeutig widerlegt oder validiert werden könnten.
Die nicht enden wollende Diskussion über die Wirkungsweise von Psychopharmaka
verrät, dass es sich bei ihren Nachfolgern grundsätzlich nicht
viel anders verhält. ... Wer etwas über die Realitäten
medizinischer Forschung erfahren will, sollte dieses Buch zur Hand nehmen.
Kartoniert, 240 Seiten, 10 Abbildungen, ISBN 978-3-925931-34-5. Berlin:
Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, vollständig überarbeitete
und aktualisierte Neuausgabe 2004 Sophie Blau
Anne Wanitschek / Sebastian Vigl:
Cannabis und Cannabidiol (CBD) richtig anwenden. Wirkungsweisen und Behandlungsmethoden
verständlich erklärt. Hanf und ätherische Öle wirkungsvoll
kombinieren
Die Heilpraktiker Wanitschek und Vigl informieren über die Verwendung
von Cannabis sowie Cannabis-Bestandteilen wie dem psychoaktiven THC sowie
CBD mit äußerst geringem THC-Anteil. Sie erläutern die
Geschichte der Heilpflanze Hanf, erklären das Endocannabiniod-System
des Körpers, das für die Aufnahme der Cannabis-Bestandteile
verantwortlich ist, welche Ernährungsmethoden und Verhaltensweisen
es negativ oder positiv beeinflussen, wie man frei erhältliche Cannabis-Produkte
verarbeiten und einnehmen kann (Dosierungshinweise inklusive), mit welchen
Methoden man ihre Wirkung verstärken kann und welche Risiken bei
bestimmten Anwendungen einzukalkulieren sind. Anschließend erklären
sie die Wirkungsweise des Hauptwirkstoffs THC sowie des nicht weniger
wichtigen CBD, wobei letzteres für Psychiatriebetroffene interessant
ist, die gegen psychische Probleme wie Müdigkeit, Ängste, Aufmerksamkeitsprobleme,
posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Medikamentenabhängigkeit,
Schlafstörungen, "Schizophrenie" usw. vorgehen wollen. Diesen Betrachtungen
der beiden Heilpraktiker liegt jeweils eine althergebrachte und nicht
hinterfragte Vorstellungswelt mit gestörtem Botenstoffwechsel im
Gehirn zugrunde; allerdings wirken die Cannabis-Bestandteile unabhängig
vom Krankheitsbild der Anwender. Was "Schizophrenie" betrifft, so ist
nach den Worten von Wanitschek und Vigl eine sehr hohe und damit teure
CBD-Dosis notwendig; und bei ärztlicher Verordnung können Krankenkassen
die Kosten übernehmen, müssen dies bisher aber nicht. Insofern
sind die im Buch erwähnten Methoden interessant, mit denen die Wirkung
frei erhältlicher und nicht ganz so kostspieliger CBD-Öle verstärkt
werden kann. Am interessantesten dürfte sein, wenn zukünftig
betroffenenkontrollierte Studien oder zumindest Einzelberichte publiziert
werden, wie insbesondere CBD akut und auf Dauer wirkt. Mit Bezugsadressen.
Kartoniert, 125 Seiten, 15 farbige Abbildungen, ISBN 978-3-86910-334-1.
Hannover: Humboldt Verlag 2018. € 16.99 Peter Lehmann
Peter N. Watkins: Recovery wieder genesen können. Ein
Handbuch für Psychiatrie-Praktiker
Plädoyer eines britischen Psychologen und Psychiatriepflegefachmanns
nach vier Jahrzehnten Berufspraxis, unter Verzicht auf vorgegebene Lösungswege
und unter der befreienden Annahme des Nicht-Wissens der Fähigkeit
der Menschen zu vertrauen, ihren Problemen eine Bedeutung zuzuordnen und
Entscheidungen zu treffen, die ihr Leben letztendlich erträglicher
machen. Orientiert an der kritischen Psychiatriebewegung der zurückliegenden
Jahre (Laing, Foucault, Breggin, Thomas, Romme, Mosher, Bracken usw.)
fordert Watkins seine Kollegen auf, Betroffene in humanistischer Weise
zu unterstützen und Betroffene, die ihre Probleme und die Psychiatrie
überwunden haben (allen voran die in diesem Buch anglo-amerikanischen
Vertreter der Betroffenenbewegung Ahern, Fisher, Chamberlin, Coleman,
Deegan, Wallcraft), als Experten für sich selbst in aktiver Rolle
wertzuschätzen, von ihren Erfahrungen zu lernen und die weit
über die bloße Betonung der Hoffnung auf Symptomlinderung und
Genesung hinausgehende familiäre, spirituelle und kreative
Dimension des Recovery-Prozesses in die eigene Praxis zu integrieren.
Kartoniert, 250 Seiten, ISBN 978-3-456-84723-8. Bern usw.: Hans Huber
Verlag 2009. € 29.95 Peter Lehmann
Einfach abhauen. Dieses Buch bringt einen zum Nachdenken darüber,
wie eine echte Alternative zur Psychiatrie aussehen müsste. Denn
die wenigen mutigen Menschen, die es schaffen, sich aus dem immer
feiner gesponnenen Netz psychiatrischer Kontrolle zu befreien, haben
oft keinen Ort, an dem sie Schutz und Aufnahme finden. Uta Wehdes
Plädoyer für einen psychopharmakafreien und nutzerkontrollierten
Hilfs- und Schutzraum ist wegweisend. Benjamin Sage
Weglaufen und ein alternatives Leben finden. "In der DDR kam der
erste Hoffnungsschimmer der Freiheit, als ein paar mutige Menschen
tatsächlich wegliefen. Uta Wehde zeigt uns, dass dies auch im
Bereich der Psychiatrie möglich ist und dass die Mauern dieser
maroden Institution ebenfalls eingerissen werden können", schreibt
Jeffrey M. Masson der ehemalige Leiter des Sigmund Freud Archivs
in seinem Geleitwort zu dieser kritischen Recherche. Obwohl
die Reform der Anstaltspsychiatrie in Deutschland gern in Sonntagsreden
gelobt wird, fehlt es bis heute weitgehend an Institutionen, die eine
echte Alternative zur Psychiatrie und ihren Zwangsmethoden darstellen
könnten. Uta Wehde hat die bekannten Alternativen kritisch unter
die Lupe genommen und die Befunde für die Konzeption des Berliner
Weglaufhauses nutzbar gemacht. Das sind namentlich die kalifornische
(!) Soteria von Loren Mosher, das Diabasis-Projekt von John Perry
und die niederländischen Weglaufhäuser. Dabei stehen Letztere
im Zentrum ihrer Untersuchung. Die mit wissenschaftlicher Genauigkeit
geführte Analyse der Praxis in den Niederlanden fällt ziemlich
bedenklich aus. Der oft kritiklose Umgang mit Psychopharmaka hat Uta
Wehde besonders gestört. Ihre Vor-Ort-Recherche in Holland zeigt,
dass Psychopharmaka die Lebensqualität der vormals psychiatrisierten
Menschen oft entscheidend vermindert. Sie sind nicht selten dafür
verantwortlich, wenn die Weggelaufenen nicht in ein Leben außerhalb
sozialer Hilfssysteme zurückfinden. Die liberale Institution
wird so schnell zur Scheinalternative. Im Berliner Weglaufhaus
an dessen politischer Durchsetzung die Autorin wesentlich beteiligt
war herrscht in der Konsequenz eine äußerst kritische
Einstellung zu diesen Präparaten vor. Am Schluss gibt Uta Wehde
nicht nur eine Übersicht über die Konzeption des Berliner
Weglaufhauses, sondern dokumentiert auch die Geschichte seiner politischen
Durchsetzung. Dieses Buch ist sicherlich keine leichte Gutenachtlektüre.
Eine große Empfehlung jedoch für alle, die sich ernsthaft
Gedanken über Alternativen zu den Zwangsmechanismen der herrschenden
psychiatrischen Praxis machen wollen. Sophie Blau
Kartoniert, 192 Seiten, ISBN 978-3-925931-05-5. Berlin: Peter Lehmann
Antipsychiatrieverlag 1991. € 5.90
Stefan Weinmann: Die Vermessung
der Psychiatrie Täuschung und Selbsttäuschung eines Fachgebiets
Das Buch des Psychiaters Stefan Weinmann, der derzeit in Berlin arbeitet,
besteht aus einer heftigen und fundierten Kritik an den Halb- und Unwahrheiten
der psychiatrischen "Wissenschaft", die als evidenzbasierte
Fakten vermarktet werden, und aus einer Kritik an der biologistischen
Herangehensweise der Mainstream-Psychiatrie, die den Blick auf die Lebensgeschichte
des einzelnen Menschen verstelle und die Notwendigkeit von Selbsthilfemaßnahmen
aus dem Blickfeld rücke. Besonders heikle Punkte, vor denen sich
Autoren des Psychiatrieverlags scheuen, spricht auch Stefan Weinmann nicht
an: die strafrechtlich relevante Verabreichung von Psychopharmaka ohne
informierte Zustimmung, die fehlende Gleichheit seiner Kollegen vor dem
Zivil- und Strafrecht (selbst klare Rechtsverstöße werden nicht
verfolgt), die menschenrechtswidrige und oft traumatisierende Verabreichung
von Neuroleptika durch gewaltbereite psychiatrisch Tätige, die Wiederkehr
des aus dem Faschismus stammenden Elektroschocks (speziell Frauen verabreicht),
die psychiatrische Verleugnung des Risikos der körperlichen Abhängigkeit
von Antidepressiva und Neuroleptika sowie die um zwei bis drei Jahrzehnte
reduzierte Lebenswartung von Menschen mit ernsten psychiatrischen Diagnosen.
Dafür kritisiert Weinmann das neuromythologische Neuroimaging, die
Weitergabe des psychiatrischen Halbwissens in der Psychoedukation, die
Konditionierung der Beteiligten zur Psychopharmaka-Verabreichung, die
von Mainstream-Psychiatern konsequenzenlos hingenommene intelligenzmindernde
Verringerung der Grauen Hirnsubstanz durch Neuroleptika, die unsubstanziierte
Dopamin-Hypothese der "Schizophrenie", chronifizierende und keinesfalls
rückfallverhütende Wirkungen von Antidepressiva und Neuroleptika
u.v.m. Wer die Diskussion innerhalb der fortgeschrittenen Sozialpsychiatrie
nachvollziehen will, die Überzeugung des Autors von der Notwendigkeit
von Selbstverteidigungsstrategien des psychiatrischen Fachgebiets teilt
und Argumentationshilfen für die Diskussion mit Vertretern der herrschenden
Psychiatrie sucht, wird in diesem empfehlenswerten Buch fündig. Kartoniert,
283 Seiten, ISBN 978-3-88414-931-7. Bonn: Psychiatrieverlag 2019. €
25. Peter Lehmann
Stefan Weinmann: Erfolgsmythos Psychopharmaka Warum wir Medikamente
in der Psychiatrie neu bewerten müssen
Sozialpsychiatrisch orientierte (d.h. Publikationen kritischer Psychiatriebetroffener
ignorierende) Auseinandersetzung mit den Folgen des Bekanntwerdens der
Psychopharmakaschäden, insbesondere der von Volkmar
Aderhold publizierten neuroleptikabedingten hohen
Sterblichkeitsraten und Plädoyer für Alternativen à
la Soteria
und Offener
Dialog, für Wahlfreiheit, Einbeziehung von Psychiatriebetroffenen
in Praxis und Forschung und eine von Pharmaunternehmen unabhängigere
Forschungs-, Entstigmatisierungs- und Informationspolitik. Wenn ein Psychiater
"wir" sagt, meint er das durchaus und ausschließlich wörtlich:
die Definitionsmacht der Probleme möchte er nicht teilen, und wenn
es darum geht, Forderungen aufzustellen, will er auch hier bestimmen;
sich mit den Forderungskatalogen der Organisationen von Psychiatriebetroffenen
und ihre Unterstützern auseinanderzusetzen, diese auch nur zu benennen,
ist nicht die Sache eines Sozialpsychiaters. Nichtsdestotrotz ist das
Buch lohnenswert zu lesen; es zeigt, dass die Revocerydiskussion und die
Forderung nach einem Paradigmenwechsel bzw. nach Paradigmenabschaffung
(siehe Pat
Bracken) bei Psychiatern angekommen ist. Kartoniert, 264 Seiten, ISBN
978-3-88414-455-8. Bonn: Psychiatrieverlag 2008. € 29.95 Peter Lehmann
Stefan Weinmann / Thomas Becker: Qualitätsindikatoren für
die Integrierte Versorgung von Menschen mit Schizophrenie. Handbuch
Wenn man im Anhang dieses Buches nachschaut, auf welche Literatur sich
die entwickelten Qualitätsindikatoren für die sogenannte integrierte
Versorgung von Menschen mit der Diagnose "Schizophrenie" stützt,
überkommt einen schnell ein leichtes Grausen angesichts der
ausnahmslos biologisch orientierten Weltsicht der zitierten Psychiater,
die sich durch die Recherchestrategie folgerichtig ergab. Diese baute
auf den sogenannten Cochrane-Reviews und, inhaltlich gleich gelagert,
der "Leitlinie Schizophrenie" der DGPPN auf. Die beiden Autoren haben
viel Arbeit investiert, um aus diesem biologischen Psychiatriebrei auf
"breitem fachlichen Konsens" beruhende Qualitätsindikatoren zu entwickeln,
damit psychiatrische Einrichtungen untereinander vergleichbar werden.
Der Konsens wurde laut Angabe der Autoren durch Abstimmung bei einem Workshop
am 31.7.2008 erzielt, bei dem 13 "unabhängige Experten" abstimmten
über ein Ranking der Indikatoren. Neben mehrheitlich Psychiatern
vertrat Ruth Fricke den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener, gleichberechtigt
mit dem pharmafirmengesponserten Angehörigenverband. Das Buch behandelt
das psychiatrische Verständnis sogenannter Schizophrenie: das übliche
biologische Krankheitskonzept, verbunden mit Psychopharmakavergabe, natürlich
Langzeitverabreichung. Eine betroffenenorientierte Sichtweise sucht man
vergebens. Es folgen Betrachtungen zum Qualitätsmanagement und zur
Messung von Qualität in der Behandlungen. Als behandlungsbezogene
Variablen findet man den Anteil an Personen, denen man typische oder sogenannte
atypische Neuroleptika bzw. Depotneuroleptika verabreicht; nichtpsychiatrische
Hilfen, wie beispielsweise im Artikel Ergebnis
der Umfrage unter den Mitgliedern des Bundesverbandes Psychiatrieerfahrener
zur Qualität der psychiatrischen Versorgung 1995 genannt und
als wesentliches nutzerorientiertes Qualitätsmerkmal definiert wurden,
sucht man selbstredend ebenfalls vergeblich. Qualität in diesem Verständnis
ist Qualität à la biologische Psychiatrie, Alternativen dürfen
nicht gedacht werden, sie kommen demzufolge in diesem Buch nicht vor.
Insofern wurden die Ziele erreicht, "die Erarbeitung einer konzeptionellen
Grundlage für die Identifikation und Beschreibung von Qualitätsindikatoren
bei der Behandlung der Schizophrenie", die "Beschreibung der Evidenzbasis
für die relevanten identifizierbaren Qualitätsindikatoren" etc.
Die "integrierte Versorgung" kann fortschreiten, Gemeindepsychiatrie und
Langzeitverabreichung wie gehabt, jetzt noch besser messbar, und wie diese
Messung vonstatten geht, zeigt sich prima an diesem technisch-psychiatrischen
Buch. Psychiatriebetroffene bleiben Objekte der Behandlung, ihre formale
Einbindung in solche Projekte, wie die Erarbeitung psychiatrischer Qualitätsindikatoren,
entspricht dem Zeitgeist, sie macht sich gut als Feigenblatt. Kartoniert,
188 Seiten, ISBN 978-3-88414-488-6. Bonn: Psychiatrie-Verlag 2009. €
39.95 Peter Lehmann
Thomas Wiefelhaus: Betheljugend Mehrbett- oder Einzelzimmer?
Buch aus dem Blickwinkel des ehemals unmündigen, 14-jährigen
Patienten über seinen aus nichtigem Anlass erzwungenen Aufenthalt
in der Männerpsychiatrie 1971 in Bethel, die verweigerte psychosoziale
Hilfe, die Überwindung der Psychopharmakawirkungen durch regelmäßiges
Erbrechen u..v.m. Der Untertitel könnte auch lauten "Bettensaal
oder Iso-Zelle?", möglich wäre aber auch "Gebrochen
werden durch die Behandlung oder die eigene Identität erhalten auch
unter allerschwierigsten Bedingungen". Dem damals 14-Jährigen,
der sich nicht unterbringen ließ, gebührt derselbe Respekt
wie dem heute 52-Jährigen, der sich auch durch die mittlerweile vergangenen
Jahre nicht davon abbringen ließ, sein Schicksal in der Psychiatrie
zu dokumentieren. Das Buch passt so sehr gut zur aktuellen Diskussion
um die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in den Kinderheimen
in den drei Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs aber auch
zur überfälligen Diskussion um die um Situation in der Kinderpsychiatrie
heute, die sich vermutlich nur äußerlich und durch andere Psychopharmakanamen
von der Psychiatrie unterscheidet, wie sie der Autor erlebt hat und so
plastisch wie lesenswert beschreibt. Rezension
im BPE-Rundbrief. Taschenbuch, 136 Seiten, ISBN 978-3-8370-6351-6,
Norderstedt: Books on Demand 2008. € 9.95 Peter Lehmann
Petra Wiegers: Nur die Liebe fehlt Von Depression nach der
Geburt und Müttern, die ihr Glück erst finden mussten
Die Journalistin Petra Wiegers hat vier Frauen interviewt, die nach der
Geburt ihrer Kinder in schwere psychische Krisen geraten sind. Diese Berichte
hat sie umgeschrieben. Sie schildert nun in Ich-Form, wie die Frauen immer
tiefer in die Krisen gerieten, mit ihrem Selbstbild und ihren eigenen
Forderungen an sich selbst nicht mehr klar kamen, Depressionen entwickeln,
teilweise mit Angst- und Panikattacken sowie Zwangsgedanken, schließlich
nicht mehr konnten, eine Auszeit brauchten, mit Kind in die Psychiatrie
gingen, und ihnen dort geholfen wurde, die Probleme zu überstehen.
Vier Erfolgsgeschichten. Die Psychiaterin Dr. Susanne Simen vom Klinikum
Nürnberg Nord - Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, erklärt
jeweils im Anschluss an die vier Berichte, welche Probleme die Frauen
hatten, die von der Autorin bereits erklärend nacherzählt wurden.
Im Nachwort erklärt die Psychiaterin noch einmal die Therapie der
postpartalen, d.h. nach der Geburt auftretenden Depression: es gebe wirksame
und nebenwirkungsarme Medikamente, die nicht in die Muttermilch übergingen
und somit das Baby nicht belasten, alles hänge ab von der Wahl des
richtigen Medikaments. Eventuell sollten die Antidepressiva schon während
der Schwangerschaft verabreicht werden, eventuell auch in Kombination
mit einer Psychotherapie. Kein Wort von Risiken und abhängig machendem
Potenzial dieser synthetischen Stoffe. (Und dankenswerterweise keine Empfehlung,
den leidenden Müttern Elektroschocks zu verabreichen, schließlich
wird diese Maßnahme auch in der psychiatrischen Klinik Nürnberg
Nord vollzogen, und Schwangerschaft gilt mitnichten als Kontraindikation
für diese brutale, im Faschismus entwickelte Behandlung.) Ich schaute
in der "Roten Liste" nach, die jeder Apotheker hat und die in vielen öffentlichen
Bibliotheken einsehbar ist. Beim Hersteller des weit verbreiteten Citalopram
lese ich beispielsweise, wie schädlich sich diese Substanz für
Neugeborene auswirken kann, ich lese von Atemnot, Erbrechen usw., und
dass die Substanz selbstverständlich in die Muttermilch übergeht:
"Folgende Symptome können bei Neugeborenen nach der maternalen Anwendung
von SSRIs/SNRIs in den späten Stadien der Schwangerschaft auftreten:
Atemnot, Zyanose, Apnoe, Krampfanfälle, instabile Körpertemperatur,
Schwierigkeiten beim Trinken, Erbrechen, Hypoglykämie, Muskelhypertonie,
Muskelhypotonie, Hyperreflexie, Tremor, nervöses Zittern, Reizbarkeit,
Lethargie, ständiges Schreien, Benommenheit und Schlafstörungen.
Die Symptome können entweder durch serotonerge Wirkungen oder durch
Absetzreaktionen verursacht sein. In der Mehrzahl der Fälle beginnen
die Komplikationen sofort oder sehr bald (weniger als 24 Stunden) nach
der Geburt. Daten aus epidemiologischen Studien deuten darauf hin, dass
die Anwendung von Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SSRI)
in der Schwangerschaft, insbesondere im späten Stadium einer Schwangerschaft,
das Risiko für das Auftreten einer primären pulmonalen Hypertonie
bei Neugeborenen (PPHN, auch persistierende pulmonale Hypertonie genannt)
erhöhen kann. ... Citalopram geht in die Muttermilch über."
(ABZ Pharma, "Citalopram", Fachinformation, Stand: Februar 2014). Herstellerinformationen
zu anderen Antidepressiva transportieren die gleiche Botschaft. Deshalb
kann ich angesichts aller Schwierigkeiten, die psychische Probleme
in der Schwangerschaft und der Zeit danach eh schon mit sich bringen,
und auch wenn ich bloß ein Mann bin nur zur Vorsicht vor
Antidepressiva raten und zur Vorsicht vor diesem Buch. Verantwortungsvoller
und differenzierter Journalismus sieht anders aus. Kartoniert, 176 Seiten,
ISBN 978-3-8436-0698-1. Ostfildern: Patmos Verlag der Schwabenverlag AG
2016. € 16.99 Peter Lehmann
Christina M. Wiesemann: Schlafstörungen 3-Schritte-Programm
gegen Einschlaf- und Durchschlafstörungen Die Doppel-CD informiert leichtverständlich über das Phänomen
des Schlafes und die Verschiedenartigkeit von Schlafstörungen. Mit
einem Programm in mehreren Teilen, das auf verhaltenstherapeutischen und
auf Hypnose basierenden Methoden aufgebaut ist, lernt man, eigene Schlafrituale
zu entwickeln und schlafhinderliche Grübeleien zu stoppen. Eine Fantasiereise
mit speziellen Suggestionen zum Einschlafen, Musik und Naturgeräusche
zum Träumen runden die Doppel-CD ab. Allen, die Schlafprobleme haben,
ist diese CD empfohlen, 1000 mal besser, als Psychopillen einzuwerfen.
Der Versuch lohnt sicher. Hörbuch, 2 CDs mit 16-seitigem Begleitheft
(in Jewelcase), Gesamtspieldauer 154:15 Minuten, ISBN 978-3-939306-07-8.
München: Arps-Verlag, 2. Auflage 2009. € 24.80 Peter Lehmann
Christina M. Wiesemann: Angst- & Panik-Attacken Den plötzlichen
Alarm im Körper verstehen, bewältigen und auflösen
Bei diesem Hörbuch handelt es sich um eine Doppel-CD mit intensivem
verhaltenstherapeutischen Trainingsprogramm. Man kann lernen, die Angst-
und Paniksymptome zu verstehen, sich den Attacken schrittweise zu stellen
und so den Teufelskreis der Angst zu durchbrechen, auch Rückfälle
zu überwinden. Aber wie gesagt, es handelt sich um ein intensives
Trainingsprogramm, das über einige Wochen hinweg durchzuführen
ist. Aber man kann es alleine machen, die Übungen werden erklärt,
ein Beiheft gibt zusätzliche Anleitungen, und wer diese Übungen
macht, ist nach ein paar Wochen vermutlich an einem anderen Entwicklungspunkt
als derjenige, der in dieser Zeit lediglich Antidepressiva oder Tranquilizer
schluckt. Hörbuch, 2 CDs mit 24-seitigem Begleitheft (in Jewelcase),
Gesamtspieldauer 155:55 Minuten, ISBN 978-3-939306-05-4. München:
Arps-Verlag, 3. Auflage 2009. € 24.80 Peter Lehmann
Markus Wiesenauer / Annette Kerckhoff: Homöopathie für die
Seele Über Wege der Einflussnahme auf psychische und psychosomatische
Probleme, u.a. Ängste, Essstörungen, Nervosität, Reizbarkeit,
depressive Verstimmung, Stimmungsschwankungen, Trauer, Unruhe, Wutanfälle,
Appetitlosigkeit, Erschöpfung und Burnout, Konzentrations- und Schlafstörungen.
Obwohl eingangs im Buch geraten wird, bei "schweren seelischen Erkrankungen
unbedingt professionelle Beratung, medikamentöse und bisweilen stationäre
Behandlung" vornehmen zu lassen und ärztlich verordnete Psychopharmaka
bloß nicht abzusetzen, ist es doch gedacht als Wegweiser für
Selbsthilfemaßnahmen bei leichten Beschwerden und für professionelle
Helfer bei schweren psychischen 'Erkrankungen'. Der Mediziner und Pharmazeut
Wiesenauer und die Heilpraktikerin Kerckhoff starten mit einer kleinen
Einführung über die homöopathischen Grundlagen und einem
Fragebogen zur Mittelfindung, beschreiben dann ausführlich die besonders
wichtigen Homöopathika und kommen schließlich zu speziellen
psychischen Problemen und Vorschlägen, welche Mittel jeweils geeignet
sein könnten, teilweise auch mit Angaben zur Anwendung und Dosierung.
"Homöopathie für die Seele" erschien original 2003;
bei einer Neuauflage würde ich auch Informationen über mögliche
unerwünschte Wirkungen bei therapeutischer oder zu hoher Dosierung
wünschen für diejenigen, die Probleme mit der Anwendung haben
und Orientierung benötigen. Softcover mit runder Ecke, 128 Seiten,
55 Farbfotos, ISBN 978-3-8338-0214-0. München: Gräfe & Unzer
Verlag, erweiterte und aktualisierte Neuausgabe 2008. € 12.90 Peter Lehmann
Constanze Wilkes: Psychiatrische Unterbringungen und Zwangsbehandlungen
Eine empirische Untersuchung der Grenze zwischen Selbst- und Fremdbestimmung
In ihrer Studie, eigentlich einer sozialarbeiterischen Bachelor-Arbeit
(und dafür von beeindruckender Breite), lotet Constanze Wilkes das
Spannungsfeld Sozialarbeit in der Psychiatrie aus mit dem Anspruch, die
Praxis des Zwangs in der Psychiatrie zu untersuchen und Patientenautonomie
zu fördern. Das Ziel ihrer Arbeit, so ihre eigenen Worte, bestehe
darin, "... den Umgang mit der Grenze zwischen Selbst- und Fremdbestimmung
unter Einbeziehung von sozialarbeiterischen, juristischen, psychologisch-psychiatrischen
und ethisch-philosophischen Aspekten multiperspektivisch und interdisziplinär
auszuleuchten und insbesondere die subjektive Sicht der Beteiligten zu
eruieren." Dazu erörtert sie in übersichtlicher Weise die rechtlichen
Bedingungen von Betreuung und Unterbringung nach PsychKG (am Beispiel
von Nordrhein-Westfalen) und BGB, von Fixierung, Zwangsbehandlung sowie
Schutzmöglichkeiten vor Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte.
Diese Erörterung macht einen sorgfältigen Eindruck, sieht man
davon ab, dass die rechtlichen Bestimmungen ausgeblendet bleiben, die
sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergeben. Ihre kurze Einführung
in die Psychopharmakologie hätte sich die Autorin besser sparen sollen;
es handelt sich um eine unkritische Wiedergabe von Informationen der Pharmaindustrie.
Der empirische Teil ihrer Arbeit, fast 100 Seiten, ist eine Darstellung
von sieben leitfadengestützten, halbstandardisierten qualitativen
Einzelinterviews, in denen sich Interviewpartner über vollzogene
oder erlittene psychiatrische Zwangsmaßnahmen äußern.
Hiernach folgt die Auswertung und Diskussion, die sich unter anderem mit
der unterschiedlichen Bewertung von Zwang durch Anwender und Objekte des
Zwangs befasst, dem Leiden von Profis, wenn sie wegen rechtlicher Beschränkungen
keine Zwangsmaßnahmen vollziehen können, und den Argumenten
pro und contra Zwang. Das Buch schließt mit Handlungsempfehlungen
für die Forschung, für Betroffene (nutzerkontrollierte Forschung
ist für sie offenbar kein Thema) und für psychiatrisch Tätige.
Sie empfiehlt letzteren, sich über die Rechtslage informieren und
sich auszutauschen, um in Zwangssituationen mehr Handlungssicherheit zu
haben. In ihrer unentschiedenen Haltung, die gleichzeitig die einflusslose
Position von Sozialarbeitern in der Psychiatrie widerspiegelt, rät
sie gleichzeitig, Patienten in Zwangssituationen menschliche Zuwendung
und Begleitung anzubieten. Die Auseinandersetzung mit diesem Widerspruch
in sich Zuwendung bei gleichzeitiger Menschenrechtsverletzung
findet im Buch leider nicht statt. Um die Position von Patienten zu stärken,
regt sie an, dass es zukünftig ein Arbeitsfeld für Sozialarbeiter
sein könnte, ihr Klientel durch ausgewogene Informationen ergebnisoffen
beim Verfassen von Vorausverfügungen zu unterstützen. Voraussetzung
dafür, diesen durchaus sinnvollen Vorschlag umzusetzen, wäre
für mich allerdings, dass Sozialarbeiter sich der Einseitigkeit ihrer
psychiatriegenehmen Informationen über Psychopharmaka und deren Zusammenhang
mit der um durchschnittlich zwei bis drei Jahrzehnte verminderte Lebenserwartung
von Psychiatriepatienten bewusst würden. Dies könnte möglicherweise
zu etwas mehr Parteilichkeit für die wehrlosen Patienten führen
eine generelle Aufgabe der Sozialarbeit, auch in der Psychiatrie.
P.S. Für seine 228 Seiten ist das Buch irrwitzig teuer. Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 228 Seiten, ISBN 978-3-658-11143-4.
Wiesbaden: Springer Fachmedien 2016. € 39.99 Peter Lehmann
Peter Wißmann / Reimer Gronemeyer: Demenz und Zivilgesellschaft
eine Streitschrift Bemerkenswertes und facettenreiches Plädoyer for ein demenzfreundliches
Gemeinwesen, in dem Menschen mit Demenz nicht als aus dem Gemeinwesen
ausgeschlossene, dahinvegetierende und nur noch als Lebenshülle gesehene
Zielgruppe für Mediziner und Pflegekräfte im Mittelpunkt stehen,
sondern als BürgerInnen. Mit einem Vorwort von Peter J. Whitehouse
und einem Interview mit Thomas Klie. Kartoniert, 207 Seiten, ISBN 978-3-940529-16-9.
Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag 2008. € 21.90 Peter Lehmann
Brigitte Woggon: Behandlung mit Psychopharmaka Aktuell und
maßgeschneidert
Übersichtliche Darstellung von Theorie und Praxis der Verabreichung
psychiatrischer Psychopharmaka, incl. Fragen der Prüfung von Psychopharmaka,
Indikationsstellung, Wirksamkeitstests, Wirkprofile, Interaktionen, Absetzfragen,
unerwünschte Wirkungen. Da die Autorin, vormals Psychiaterin in der
Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, vollkommen in ihrem
psychopharmakologischen Gedankensystem gefangen ist, geht es in aller
Regel nur um pharmakologische Alternativen; Hilfen zur Senkung des Risikos
beim Absetzen sind nur wenig vorhanden, bei Neuroleptika komplett Fehlanzeige.
Ihre Erfahrungen als Psychiaterin würden in die Beurteilung und Gewichtung
der Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse einfließen, schreibt
sie im Vorwort. Dass sie in den Advisory Boards verschiedener Unternehmen
wie zum Beispiel des Schweizer Fluoxetin-Herstellers Eli Lilly sitzt und
sich regelmäßig ihre Reisen zu internationalen Kongresse und
Symposien von den Pharmamultis bezahlen lässt (nachzulesen
bei der Züricher Journalistin Barbara Lukesch), lässt sie
dezent unter den Tisch fallen. "Behandlung mit Psychopharmaka, Psychopharmaka
und bloß nichts anderes als Psychopharmaka" wäre ein passenderer
Titel für das Buch. Kartoniert, 290 Seiten, ISBN 978-3-456-84694-1.
Bern: Hans Huber Verlag, 3., aktualisierte Auflage 2009. € 19.95
Peter Lehmann
Wolf Wolfensberger: Der neue Genozid an den Benachteiligten, Alten
und Behinderten
Der US-Amerikaner, laut Verlag »der große alte Mann des Kampfes
um die Rechte der Menschen mit Behinderung«, beschreibt die vielfältigen
direkten und indirekten Methoden des »Totmachens« (Mordens).
Diese, zu denen Wolfensberger auch psychiatrische Psychopharmaka zählt,
seien nicht nur subtiler und teilweise heimlicher, sondern auch wesentlich
perfekter und umfassender als die der Nationalsozialisten. Weshalb Wolfensberger
ausgerechnet Dörner, Elektroschock-Lehrer und Verabreicher der genannten
Psychopharmaka, das Vorwort schreiben ließ, ist mir schleierhaft.
Dörner dankt hier Wolfensberger für sein »Erschrecken«
darüber, in welchem Ausmaß auch er und seine Mitarbeiter an
den jüngst bekanntgewordenen Morden in seiner (Dörners) Anstalt
durch das im Buch beschriebene Tabuisieren und Nicht-wahrhaben-wollen
mitwirkten. Schöne Worte, die allerdings nur abwiegeln und langfristig
einen Gewöhnungseffekt ausüben werden. Denn mir ist nicht bekannt,
dass die genannte Mitwirkung am Totmachen wehrloser Anstaltsinsass(inn)en
Geldstrafe oder Rücktritt zur Folge hatte. Dieses Missverhältnis
zur allerkonkretesten Praxis ist ein Schwachpunkt in dem ansonsten relativ
empfehlenswerten Buch. Relativ, weil sich Wolfensberger auch vehement
gegen jedwede Abtreibung wendet und auch bei Schwangerschaften durch Vergewaltigung
keine Ausnahme gelten lassen will. Dass andererseits das von ihm gewünschte
Abtreibungsverbot abtreibungswillige Frauen wieder in die Hände von
»Engelmacher(innen)« zwingen und dies eine weidlich bekannte
Form des Totmachens wiederaufleben ließe, ignoriert Wolfensberger
was ihm als Nichtgebärendem möglicherweise (zu)
leicht fällt. Kartoniert, 135 Seiten, Gütersloh: Verlag Jakob
van Hoddis 1991. DM 18. Peter Lehmann
Manfred Wolfersdorf / Elmar Etzersdorfer: Suizid und Suizidprävention
Die beiden sich enorm einfühlsam gebenden Autoren haben ein Buch
zum Thema "Suizid und Suizidprävention" und es geschafft,
das Thema behandlungsbedingte Suizidfaktoren, insbesondere Neuroleptika
und Antidepressiva, nahezu unerwähnt zu lassen; nur in einem Satz
werden möglicherweise suizidfördernde Wirkungen von Antidepressiva
bzw. Depressivität, akinetisches Syndrom, Parkinsonsyndrom, Akathisie
und Dysphorie bei Neuroleptika als beteiligte Faktoren der Suizidalität
genannt. Konsequenzen wie Warnungen vor diesen Substanzen oder der Vorschlag
für Studien zur genaueren Erforschung des Zusammenhangs zwischen
Psychopharmakawirkungen und Suizidalität bleiben die Autoren schuldig,
Literatur zu diesem Thema lassen sie unerwähnt. Das Interesse an
diesem Thema ist gleich Null kein Wunder, die Finanziers von Suizidpräventionskampagnen
sind häufig Pharmamultis, deren Vertreter kritische Stimmen innerhalb
von Studien oder Kongressen von vornherein eliminieren. Leider kommt dieses
Thema in dem Buch ebenso nicht vor. So muss man konstatieren, dass es
zwar die heutigen Mainstreamvorstellungen zum Suizid und zur Suizidprävention
der biologischen Psychiatrie zusammenfasst und pharmafirmenkonforme Konzeptionen
zum Suizid, umfassend Kriseninterventions- und Präventionsansätze
vorstellt, aber durch die unkritische Haltung gegenüber psychiatrischen
Psychopharmaka den Eindruck hinterlässt, den Teufel mit dem Beelzebub
austreiben zu wollen, und mit seinen Psychopharmaka-Empfehlungen eher
zur Verschärfung der Suizidgefahr beiträgt. Ärztliche Verantwortung
sieht anders aus. Fazit: nicht empfehlenswert. Gebunden, 261 Seiten, 16
Abb., 121 Tab., ISBN 978-3-17-020408-9. Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2011.
€ 39.90 Peter Lehmann
Martin Wollschläger (Hg.): Hirn Herz Seele
Schmerz. Psychotherapie zwischen Neurowissenschaften und Geisteswissenschaften
Der Sammelband enthält 19 teilweise recht anspruchsvolle Beiträge
eines Symposiums beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie
2006 in Berlin, das von Martin Wollschläger, einem an der Westfälischen
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Neurologie
in Gütersloh arbeitenden Psychologen und Psychotherapeuten, durchgeführt
wurde. 17 Männer und zwei Frauen aus den Fachgebieten Psychologie,
Philosophie und Medizin sowie ein Schriftsteller diskutierten über
die wechselwirkenden Dimensionen: Leib, Seele, Gruppe und Kultur am Beispiel
der Psychotherapie im Spannungsfeld zwischen Neuro- und Geisteswissenschaften.
Das Buch enthält die ausgearbeiteten Referate. Obwohl der Buchtitel
laut Wollschläger auf das Buch "Irren ist menschlich" von
Dörner und Plog zurückgehe ein Buch, das u.a. mit seiner
Rechtfertigung von Elektroschocks nicht gerade als kritisch gilt , stellen die Beiträge in "Hirn Herz Seele
Schmerz" dennoch den reduktionistischen Ansatz der herrschenden Psychiatrie
und Psychotherapie in Frage, den lebendigen, fühlenden, handelnden
und denkenden Menschen biophysikalisch beschreiben, vermessen und verstehen
zu können. Von den 19 Beiträgen am besten gefallen hat mir der
Artikel des Psychoanalytikers und Psychiaters Wolfgang Leuschner: "Neurowissenschaften
und ihre Allmachtsphantasien" über das Kartell aus Medizin,
Biologie, Ingenieurswissenschaften, Robotik, militärischer Forschung,
medizinischer Geräte- und Informationsindustrie, Neuro-Marketing,
Bildproduktions- und Nanotechnologie und chemischer Industrie mit
der Neurowissenschaft als Herzstück des Versuchs, einen neuen, über
künstliche zerebrale Mikroprozesse manipulierten und nicht mehr vom
Verfall und Tod, von Krankheit und körperlicher Unvollkommenheit
bedrohten Menschen zu schaffen. Platz für eine eigenständige
Psyche wäre bei einem solchen Produkt der neuen Halbgötter nicht
mehr vorhanden. Schade, dass Wollschläger wohl recht haben wird mit
seiner Prognose eingangs des Buches, dass das Buch ein Diskussionsforum
wohl nur eine Minderheit darstellt, dabei wäre es angesichts der
Tatsache, dass wir immer mehr in das Zeitalter der Neurowissenschaften
hineinschlittern und kaum ein psychologischer Zusammenhang mehr öffentlich
erklärt wird, ohne zur Untermauerung der eigenen Aussagen gleichzeitig
mittels bildgebender Verfahren Hirnareale in bunten Farben aufblinken
zu lassen, so wichtig, dass sich derzeitige und angehende Meinungsführer
mit allen zur Verfügung stehenden Kräften gegen eine Entwicklung
richten, die früher oder später auf alle zurückfallen wird.
Wenn die Schweizer Psychiaterin Brigitte Woggon 2000 öffentlich erklären
konnte: »Alles, was wir fühlen, ist eben Chemie: seelenvoll
in den Sonnenuntergang blicken, Liebe, Anziehung, was auch immer
alles sind biochemische Vorgänge, wir haben ein Labor im Kopf«),
ohne dass ein allgemeines Gelächter ausbrach, wird die grundlegende
verächtliche Haltung gegenüber dem Geschöpf Menschen deutlich.
Möge der Sammelband Wollschlägers dazu betragen, dass sich möglichst
viele gegen eine solch primitive Weltsicht wenden. Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 301 Seiten, 4 Abbildungen, Tabellen,
ISBN 978-3-87159-073-3. Tübingen: DGVT-Verlag 2008. € 24.
Peter Lehmann
Yvonne Wübben: Verrückte Sprache Psychiater und Dichter
in der Anstalt des 19. Jahrhunderts
"In ihrer Verwertung von Patientensprache verfolgt die Psychiatrie
somit stets ein zweifaches Ziel: Einerseits geht es ihr darum, Sprache
mithilfe der eigenen Verfahren als verrückt auszuweisen, sowie andererseits
darum, diese Sprache einer Wissenschaftssprache unterzuordnen."
(S. 8; Hervorhebung G.S.) In ihrer lesenswerten Sprachstudie zeichnet
Yvonne Wübben die vielfältigen Verflechtungen des psychiatrischen
Deutungsanspruches mit dem literarischen und literaturwissenschaftlichen
Diskurs der Moderne nach, zurückweisend auf die psychiatrische Sprachdiagnostik
der "Dementia Praecox" bzw. der "Schizophrenie" im
19. Jahrhundert. "In Ermangelung einer eigenen psychiatrischen Fachterminologie"
wird schon um 1870 von Ewald Hecker und anderen Psychiatern zurückgegriffen
"auf die Rhetorik und Literatur" (S. 9). "Der als barock
degradierten Patientensprache" wird "eine auf Nüchternheit
und Objektivität angelegte Wissenschaftssprache" gegenübergesetzt,
"die sich am Ideal der reinen Beobachtung orientiert und zur Etablierung
der Psychiatrie als klinischer Wissenschaft beitragen soll." (ebd.)
Cesare Lombroso legte 1887 mit seinem Werk "Genie und Irrsinn"
einen weiteren Grundstein. Hecker, Paul Möbius und viele andere Psychiater
mit "philologischer Ader" folgten seinem Aufruf zur Pathologisierung
der Sprache deutscher Dichter. Pathographien werden somit "ein Medium,
das der innerwissenschaftlichen Positionierung dient und Wissen durch
Differenzmarkierungen als neu ausweist" (S. 168). Das ergiebigste
Opfer dieser Analysen: Friedrich Hölderlin in seiner zweiten Lebenshälfte,
eingeschlossen in den Tübinger Narrenturm. Nun war der arme Hölderlin
erstens unglücklich verliebt, zweitens verstarb die Unerreichbare
und drittens bescherte ihm seine Wanderung von Bordeaux zurück nach
Württemberg nachweislich einige traumatisierende Erlebnisse, die
seine spätere geistige Verwirrung erklären könnten. Die
Lebensgeschichte aber wird für die eine eigene Definitionsmacht erlangen
wollende Psychiatrie zum Beiwerk diese neue Disziplin der Medizin
etabliert nun eine dezidierte Abgrenzung von gesundem und pathologischem
Sprechen als Phänomen. Wie und wann diese Anmaßung auf Anklang
und Ablehnung stößt in literaturwissenschaftlichen und später
avantgardistischen Kreisen der Poetik hierzu liefert Yvonne Wübben
eine materialreiche Darstellung, die bis in die Popliteratur der Gegenwart
reicht. Die "Janusköpfigkeit" der psychiatrischen Verhaftung
"einer vermeintlichen Sprache des Wahnsinns" hat bis heute nichts
an Fragwürdigkeit verloren. Den Anfängen dieser Wissenschaftsgeschichte
nachzugehen, erweist sich als produktiv, insbesondere da Wübben auch
einen wunden Punkt der radikalen Psychiatriekritik der 1970er-Jahre aufgreift,
denn auch "das Material", das die Psychiatriekritik "als
Kunst umdeutet, ist bereits vermittelt und durch die Kategorien der psychiatrischen
Sprachdiagnostik zugeschnitten." (S. 294) Rezension
im BPE-Rundbrief. Gebunden, 333 Seiten, ISBN 978-3-86253-023-6. Konstanz:
Konstanz University Press 2012. € 39.90 Gaby Sohl
Günter Wulf: Sechs Jahre in
Haus F Eingesperrt, geschlagen, ruhiggestellt. Meine Kindheit in
der Psychiatrie
Sechs Wochen nach seiner Geburt im Jahr 1959 wird der kleine Günter
seiner Mutter auf Betreiben von deren Mutter und auf Anweisung der Amtsvormundschaft
Neumünster (Schleswig-Holstein) heimlich in ein Heim für Kleinkinder
verbracht. Günters Mutter hatte bereits zwei Kinder von unterschiedlichen
Vätern, seine Großmutter wollte nicht, dass man in der Nachbarschaft
schlecht über die Familie redet. Damit Günter bald darauf in
ein psychiatrisches Kinderheim abgeschoben werden kann, stuft man ihn
kurzerhand als schwachsinnig ein. Im Alter von vier Jahren wird er dort
von den "Pflegekräften" fixiert, in Zwangsjacken und Isolierzimmer
gesteckt, mit kalten Duschen und Schlägen malträtiert. Mit fünf
verabreichen ihm Psychiater Barbiturate und die Neuroleptika Chlorpromazin
und Haloperidol, und noch im gleichen Jahr kommt er in die geschlossene
Kinder- und Jugendpsychiatrie: Dort werden er und andere wehrlose Kinder
dann auch noch von brutalen jungen Männern, die auf derselben Station
untergebracht sind, ständig vergewaltigt. Mit bedrückend ruhigen
Worten erzählt der Autor sein Schicksal: Wie er und seine Leidensgenossen
hilflos der psychiatrischen Gewalt und der seiner nichtpsychiatrischen
Peiniger ausgesetzt sind, wie ihnen über viele Jahre niemand glaubt
und beisteht, wie er immer wieder versucht zu fliehen oder sich das Leben
zu nehmen, wie manche seiner Mitpatienten zu Tode kommen, wie er sich
müht, Schulunterricht zu bekommen, wie ein Reformpsychiater als neuer
Klinikleiter die Wende in seinem Leben bringt, wie er in ein Kinderheim
verlegt wird und dann versucht, eine Lehre zu machen, falschen Freunden
und dem Alkohol zu entkommen und seine Mutter aufzuspüren, wie er
Kontakte zum Verein ehemaliger Heimkinder bekommt, sein Schicksal öffentlich
macht, schließlich 2018 im Plenarsaal des Kieler Landtags gemeinsam
mit anderen von der psychiatrischen Menschenverachtung und Verantwortungslosigkeit
der Aufsichtsbehörden erzählt. Aktuell, 2020 so endet
das Buch wartet der Autor immer noch auf eine angemessene finanzielle
Entschädigung für all das mit körperlichen und psychischen
Dauerschäden einhergehende Unrecht, was ihm Ämter, Psychiater,
Psychiatriepfleger und Pharmafirmen und andere antaten. Ein Lehrbuch für
Kinder- und Jugendpsychiatrie der anderen Art. Rezension
in: SeelenLaute. Taschenbuch, 253 Seiten, ISBN 978-3-404-61699-2.
München: Lübbe Verlag 2020. € 10. Peter Lehmann
Elisabeth Wurtzel: Verdammte schöne Welt. Mein Leben mit der
Psycho-Pille
Auf das Buch aufmerksam wurde ich durch eine positive Rezension im Berliner
Tagesspiegel. Es zeige das Wahnsystem rückhaltlosen Pillenkonsums,
einer mörderisch tickenden Zeitbombe im Herzen einer um jeden Preis
gut gelaunten Gesellschaft; die Zeitbombe entspringe in der Regel dort,
wo die Gesellschaft aufhöre, sich für die Probleme des Einzelnen
zu interessieren und statt dessen vorgefertige Glücksvorstellungen
als Lebensinhalte propagiere. Die autobiographische Geschichte der Literaturwissenschaftlerin
Wurtzel sei eine düstere Anklageschrift gegen eine bedrohlich heraufdämmernde
Krankenentsorgung. Angeprangert werde eine hilflose und stereotyp agierende
Psychologie, die aus der Unfähigkeit, Sinntoten Lebensinhalte zu
offerieren, ein fadenscheiniges Pillenglück offeriere. Dieser Interpretation
kann ich nicht folgen. Wurtzel gehört zur »Generation X«:
kaputtes Elternhaus, Sinnkrise, Beeinflussung durch psychopharmakologische
Chemikalien aller Art und immer wieder der Versuch, das eigene Leben an
der Scheinwelt des Films und der Rock-Musik auszurichten, was notwendigerweise
fehlschlägt. Konsequenz: Therapien aller Art (ohne dass sie ernsthaft
dargestellt werden), Tranquilizer, Antidepressiva, Lithium, Schlafmittel,
Neuroleptika, schließlich Prozac (hierzulande »Fluctin«),
der Marktführer unter den Antidepressiva. Jetzt ist sie auch nicht
glücklich, spürt aber ihre Depression nicht mehr. Allerdings
stört sie, dass in ihrer Heimat USA inzwischen Millionen die »Glückspille«
nehmen, dass dadurch der Grund für die Verschreibung, ihre Depression,
möglicherweise trivialisiert wird, ist sie doch so stolz darauf,
eine richtig schwere, exklusive Krankheit zu haben. An dieser Stelle kommen
ein paar kritische Gedanken über die »Prozac-Nation« USA,
ich vermute, dies ist Anlass gewesen, in das Buch eine Absage an die Glückspillen-Psychiatrie
hineinzuinterpretieren. »Die klinische Depression ist eine Krankheit,
die man mit Medikamenten behandeln kann, und wahrscheinlich gibt es keine
bessere Alternative« lautet eine von Wurtzels Weisheiten,
eine andere: »Es war (in ihrer Lebensgeschichte, P.L.) so viel Schaden
entstanden, dass sehr viel mehr notwendig war als eine Person oder
ein Therapeut, ein Medikament oder eine Elektroschockbehandlung
von allem war eine Menge nötig, damit die Splitter meines
Lebens wieder zusammengefügt werden konnten.« Die Suche nach
Lösungen ende immer bei Prozac, so Wurtzel, auch hier Sprachrohr
ihrer geliebten Psychiater(innen), und wenn das meistgebrauchte Adjektiv
auf den letzten Buchseiten »wunderbar« ist, denke ich an ein
ganz anderes. 353 Seiten, Berlin: Byblos Verlag 1994. DM 38. Peter Lehmann
>Richard Yates: Ruhestörung. Roman
John Wilder, der Protagonist des Romans, ist Anzeigenverkäufer beim
American Scientist, betrügt seine Frau, trinkt, wird stockbesoffen
in die Psychiatrie gebracht, muss dort ein paar Tage bleiben, geht hinterher
halbherzig zu den Anonymen Alkoholikern, führt sein Leben aber im
Prinzip weiter wie zuvor, trinkend und sich selbst etwas vormachend. Er
geht den vorgezeichneten Weg zugrunde an Alkoholismus und fehlender
Bereitschaft, sich kritisch mit dem eigenen Leben und damit auseinanderzusetzen,
wie es anders gelebt werden könnte, um mehr innere Befriedigung zu
erlangen. Davon handelt das Buch. Es ist original 1975 erschienen, stammt
aus dem Amerikanischen, die Handlung ist auf Anfang der 1960er-Jahre datiert,
laut Klappentext liefert es einen eindringlichen und unvergesslichen Blick
in die dunkelsten Winkel der Psyche. Ich fand den Handlungsstrang zwar
nachvollziehbar, aber recht langweilig und auch oberflächlich. Vielleicht
liegt darin ja gerade die Qualität des Werkes verborgen, das (Roman-)Leben
in der Form zu beschreiben, wie es ist. Allerdings ist mir das Eindringliche
und Unvergessliche irgendwie entgangen und stellte sich auch nicht ein,
nachdem ich mich endlich bis zum Ende durchgequält hatte. Gebunden,
316 Seiten, ISBN 978-3-421-04393-1. München: Deutsche Verlags-Anstalt,
2. Auflage 2010. € 19.95 Peter Lehmann
Josef
Zehentbauer: Melancholie Die traurige Leichtigkeit des Seins Endlich ist sie da eine gründlich überarbeitete Neuauflage
des 2001 im Kreuz-Verlag erschienenen Buches von Josef Zehentbauer, Arzt
und Psychotherapeut, Autor u.a. von »Abenteuer Seele«, »Das
Liebe-Prinzip« und »Chemie für die Seele«. Um mit
seinen Worten zu sprechen, ist es Ziel dieses Buches, »Melancholikern
zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen und die ausgesprochen positiven
Aspekte der Melancholie neu zu entdecken.« Denn Melancholie
ist für ihn »eine wunderbare Charaktereigenschaft, voller Tiefgang,
Kreativität und Leidenschaft« und im Sinne der Romantiker »Zugang
zum Geheimnis menschlichen Seins«. Um das Phänomen der Melancholie
zu ergründen, nimmt uns Zehentbauer mit auf eine kulturgeschichtliche
Reise. Auf anschauliche Weise mit Zitaten und Gedichten illustriert, stellt
er uns große Melancholiker vor Philosophen, Maler, Musiker,
Schriftsteller. Hierzu ergänzte er die Neuauflage um das Kapitel
»Wahnsinn und Genie«. Was wäre wohl aus all den berühmten
Persönlichkeiten geworden, hätte man sie als Kranke abgestempelt
und mit Psychopharmaka oder gar Elektroschocks behandelt? Mit der Melancholie
steht zwangsläufig auch das Thema »Depression« zur Diskussion.
Im Kapitel »Bin ich depressiv?« zeigt Zehentbauer Eigenschaften,
Grundformen und Ursachen der Depression sowie Wege aus der Depression
auf. Allein schon die andere Sehweise, der andere Blick auf Melancholie
und Depression stellt eine nicht zu unterschätzende Hilfe dar für
melancholische Menschen, aber auch für Betroffene mit der Diagnose
»Depression« und deren Angehörige. Abgerundet wird das
Buch durch 28 hilfreiche »Übungen zum traurigen Glück«
im Anhang »eine kleine Gebrauchsanweisung dafür, wie
man zum Pionier und Forscher der eigenen Seele werden kann.« Alles
in allem ein erstaunliches Buch. Für mich ein Selbsthilfe-Buch der
besonderen Art und das zu einem recht erfreulichen Preis. Rezension
im BPE-Rundbrief. Taschenbuch, 216 Seiten, ISBN 978-3-925931-45-1.
Berlin / Eugene / Shrewsbury: Peter Lehmann Publishing, 3., aktualisierte
und erweiterte Auflage 2011. € 9.95 Constance Dollwet
Josef
Zehentbauer: Chemie für die Seele Psychopharmaka und alternative
Heilmethoden Licht in der pharmakologischen Geisterbahn. Der Arzt und Psychotherapeut
Joseph Zehentbauer stellt in "Chemie für die Seele" die Wirkung von
psychopharmakologischen Therapien und alternativen Heilmethoden umfassend
dar. Seine Darstellung zeichnet sich durch zwei Besonderheiten aus: Ohne
unzulässig zu vereinfachen, bedient er sich einer auch für medizinische
Laien gut verständlichen Sprache. Im Gegensatz zu anderen Darstellungen
der Behandlungsmöglichkeiten psychischer Probleme mit Hilfe von Medikamenten
geht der Autor ausführlich auf die Gefahren durch unerwünschte
Wirkungen dieser Mittel ein. Seine Kritik wird durch Kapitel über
die gesellschaftliche Relation von Normal und Verrückt, die Seele
des Menschen und die Vorgehensweise der Pharmaindustrie abgerundet. Besonders
eingehend erläutert er die Wirkungsweise pflanzlicher, homöopathischer
und anderer nichtsynthetischer psychisch wirksamer Arzneien. Auch Exkurse
zu legalen und illegalen Glücksdrogen fehlen nicht. Dieses Buch leistet
damit, was eigentlich bei jeder ärztlichen Verschreibung von Psychopharmaka
selbstverständlich sein sollte: Es klärt umfassend über
Möglichkeiten, Gefahren und Alternativen zur verordneten Therapie
auf. Der sachliche und einfühlsam reflektive Duktus macht dieses
Buch zu einer ebenso angenehmen wie aufklärenden Lektüre. Große
Empfehlung. Kartoniert, VIII + 420 Seiten, 11., teilweise aktualisierte
Auflage mit einer Ergänzung zu den neuesten Antidepressiva und atypischen
Neuroleptika, ISBN 978-3-925931-28-4. Berlin / Eugene, OR (USA) / Shrewsbury
(UK): Peter Lehmann Antipsychiatrieverlag, 11., teilweise aktualisierte
Auflage 2010. € 21.90 Lucinda Bee
Christian Zimmermann / Peter Wißmann: Auf dem Weg mit Alzheimer
Wie sich mit einer Demenz leben lässt
Mutmachbuch für Betroffene und Angehörige mit der Botschaft:
Es gibt ein Leben nach der Diagnose. Das Buch ist ausgesprochen angenehm
geschrieben; auch der Ansatz, dass sich der Autor Zimmermann als Experte
aus eigener Erfahrung und Betroffenen versteht, jedoch nicht den Anspruch
hat, allgemeingültige Ratschläge für andere Menschen formulieren
zu können, sollte vielen zu denken geben, die in unreflektierter
Weise ihre subjektiven Erfahrungen verallgemeinern. Mit Hilfe seines Schreibassistenten
Peter Wißmann, dem Geschäftsführer der Demenz Support
Stuttgart gGmbH, klärt der Autor über die Gehirnalterung auf,
die man Alzheimer nennt, warnt vor falschen Hoffnungen, die die Pharmaindustrie
mit ihrem Profitstreben macht, beschreibt den Umgang mit den mit Alzheimer
verbundenen Problemen und gibt Tipps und Anregungen für alle, die
mit Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz leben müssen. Das
Buch nimmt irrationale Ängste und ist allen, die (nicht) damit rechnen,
früher oder später von Gehirnalterung, Nachlassen des Kurzzeitgedächtnisses
und anderen Symptomen betroffen zu sein, ans Herz gelegt. Kartoniert,
150 Seiten, ISBN 978-3-940529-90-9. Frankfurt am Main: Mabuse-Verlag 2011.
€ 16.90 Peter Lehmann
Martin Zinkler / Klaus Laupichler / Margret Osterfeld (Hg.): Prävention
von Zwangsmaßnahmen Menschenrechte und therapeutische Kulturen
in der Psychiatrie
Wie lässt sich psychiatrische Gewalt vermeiden? Mit diesem Thema
beschäftigen sich die 15 Beiträge im Buch (wenn auch nicht ausnahmslos
alle). Einige Beiträge möchte ich einzeln erwähnen.
Valentin Aichele, Leiter der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention,
wendet sich mit einer Vielzahl kritischer Argumente gegen das Konzept
der krankheitsbedingten Einwilligungsunfähigkeit und schürt
damit die Hoffnung, dass er zukünftig auch kritischen Psychiatriebetroffenen
bei seinen Veranstaltungen ein über die passive Teilnahme hinausgehendes
Podium bietet, seine Argumente zu befeuern.
Wiebke Schneider, erste stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Hauptstelle
für Suchtfragen, und Wiebke Schubert, zweite Vorsitzende des "Landesverband
NRW der Angehörigen psychisch Kranker", betonen die oft für
Angehörige stattfindende Entlastung, wenn ihre störenden Nächsten
gewaltsam mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden. Zudem sei Zwangsbehandlung
möglicherweise menschlicher als die Nichtverabreichung von Psychopharmaka.
Dass die um durchschnittlich zwei bis drei Jahrzehnte verminderte Lebenserwartung
psychiatrischer Patienten mit ernsten psychiatrischen Diagnosen, ihre
gesundheitliche Angeschlagenheit schon vor der Behandlung und nicht vorhandene
Trauma-Therapie für traumatisierte Patienten für sie kein Thema
ist, verwundert nicht; eher dass solch ein Beitrag, der sich gegen die
prinzipielle Unteilbarkeit des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit,
gegen das Menschenrecht auf Selbstbestimmung und gegen die Gleichheit
der Menschen vor dem Recht wendet, den Weg ins Buch gefunden hat.
Als Zeichen seiner Wertschätzung er hat das Buch wesentlich
initiiert ist Klaus Laupichlers unvollendete Biografie im Buch
erhalten mit dem editorischen Hinweis, er habe sich mit seiner
Position unter Psychiatriebetroffenen immer wieder unbeliebt gemacht.
Hier wäre ein Hinweis angebracht, dass er mit Ausnahme weniger dogmatischer
Kreise viele Freunde hatte und allgemein sehr beliebt war. Sein früher
Tod ist tragisch, sein Beitrag spiegelt das abrupte Ende seines Lebens.
Schade, dass die beiden hinterbliebenen Herausgeber seine zwischenzeitlich
im BPE-Mitgliederrundbrief publizierte Reflexion psychiatrischen Zwangs
seinem Fragment nicht hinzufügten, dies hätte seinen Beitrag
noch abgerundeter gemacht für dieses Buch. (Geäußert hatte
sich Klaus Laupichler nicht zur Zwangsbehandlung, lediglich zur Zwangsunterbringung:
natürlich sei er gegen Gewalt in der Psychiatrie. Ihm selbst habe
die Zwangsunterbringung das Leben gerettet, mit der in seinem Fall freundlichen
Behandlung sei eine Wende in seinem Leben eingetreten, zuvor sei es durch
Obdachlosigkeit, Mangelernährung, Alkoholmissbrauch, Nikotinabhängigkeit,
Hoffnungslosigkeit und Aggressivität bestimmt gewesen. Zwang könne
deshalb manchmal auch hilfreich sein, so seine persönliche Erfahrung.)
Lesenswert ist sein biographisches Fragment allemal, und es macht nach
wie vor traurig und wütend,
auf welch "mutige" Art dieser Mann vom damaligen Vorstand
aus dem BPE ausgeschlossen wurde.
Tilman Steinert, Psychiater aus Ravensburg, informiert über aktuelle
Studien zu Zwang und Zwangsvermeidung aus psychiatrischer Sicht, und anschließend
fasst der Rechtsanwalt Rolf Marschner kompakt und gehaltvoll die aktuelle
Gesetzeslage und Rechtsprechung zusammen. Allerdings werden keinerlei
Urteile genannt, sondern lediglich die Heftnummern der ebenfalls
im Psychiatrie-Verlag erscheinenden Zeitschrift Recht & Psychiatrie.
Offenbar soll man die Hefte kaufen, um die Urteile nachlesen zu können:
eine seltsame Form von Produktplatzierung des Psychiatrie-Verlags, die
man in anderen Verlagen so nicht findet.
Den längsten Artikel verfasste der Psychiater Volkmar Aderhold, und
zwar über Netzwerkgespräche im Offenen Dialog. Er zeigt anhand
des finnischen Beispiels und konkreter Abläufe, dass eine systemische,
dialogisch orientierte und Zwangsmaßnahmen in erheblichem Umfang
vermeidende Psychiatrie machbar ist und wie diese konkret aussieht.
Ein wieder unangenehmer Beitrag handelt von Vorausverfügungen. Geschrieben
hat ihn Raoul Borbé, Psychiater von Beruf. Ihm geht es in der Hauptsache
nicht um die Vermeidung psychiatrischer Menschenrechtsverletzungen, sondern
um leicht verfügbare vorauseilende Zustimmungen zu einer späteren
Psychopharmaka-Verabreichung Zustimmung zu Zwangsbehandlungen im
Voraus quasi als Präventionsstrategie von Gewalt. Entsprechend wirbt
der Psychiater für Behandlungsvereinbarungen, die so seine
Worte generell eine höhere Sicherheit der Akzeptanz böten,
ungeachtet deren eher nicht vorhandenen Rechtswirksamkeit. Dass er in
seiner Internet-Formularübersicht am Schluss des Kapitels nur pro-psychiatrische
Quellen nennt, passt zu seiner Haltung.
Im Schlusskapitel entwickelt Martin Zinkler, Chefarzt der psychiatrischen
Klinik Heidenheim, die Vision einer gewaltfreien Psychiatrie. Seine Ausgangspunkte
sind John Conolly, der 1839 in einem Londoner Irrenhaus alle mechanischen
Zwangsmaßnahmen abschaffte, Franco Basaglia mit dem von ihm initiierten
Gesetz 180 zur Abschaffung aller psychiatrischen Anstalten in Italien
von 1978 sowie der UN-Sonderberichterstatter über Folter und andere
unmenschliche und entwürdigende Behandlungen, Juan E. Mendéz,
der 2013 ein absolutes Verbot von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie
für unverzichtbar erklärte. Psychiatrischen Kliniken hält
Martin Zinkler das Beispiel Herne vor die Augen, eine Klinik mit durchweg
offenen Stationen und einer Rate von weniger als 1 Prozent Zwangsanwendungen
bei allen Behandlungen; möglich aufgrund Patientensprechern, reformierter
Organisationsstrukturen, Wertschätzung der Patienten und Offenheit
gegenüber noch vorhandenen Unzulänglichkeiten. Wesentlich für
Martin Zinkler ist die Verbindung menschenrechtlicher Grundsätze
mit dem Erfahrungswissen von Menschen, sowohl von Betroffenen als auch
reformorientierten professionell Tätigen, ebenso das unermüdliche
Verstehenwollen dessen, was zunächst unverständlich erscheine.
Mir käme es in dem Zusammenhang nicht einmal so sehr auf das unbedingte
Verstandenwerden an, denn so Kerstin Kempker 1991 in ihrem Buch
"Teure Verständnislosigkeit.
Die Sprache der Verrücktheit und die Entgegnung der Psychiatrie"
das Verrückte, das Unverstandene will als teures Gut nicht
um jeden Preis und von jedermann verstanden sein. Respekt auch und gerade
vor dem Unverstandenen wäre hier die Forderung, wobei nicht gesagt
sein soll, dass die Herausgeber auch nur ansatzweise den Eindruck vermitteln,
diese Position nicht zu teilen. Da aber auch die Verständnislosigkeit
ihren Preis hat und so manch ein Betroffener sie mit Körperverletzung,
Entwürdigung, Traumatisierung oder gar dem Tod bezahlt, kann man
nur hoffen, dass sich viele von Martin Zinklers und Margret Osterfelds
Kollegen die überwiegend positiven Buchbeiträge zu Herzen nehmen,
in sich gehen und psychiatrischer Gewalt nicht nur den Worten nach abschwören.
Apropo weitere Beiträge: Hierzu zählen Themen wie die Verallgemeinerbarkeit
von Patientenerfahrungen ("Wir-Wissen"), EX-IN, tiergestützte
Therapie, Entgeltsystem, Aggressionsmanagement, Deeskalationsstrategien
u.v.m., kurzum eigentlich alles, was in der derzeitigen Diskussion um
Zwangsreduzierung und -vermeidung eine Rolle spielt. Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 254 Seiten, Vorwort von Dorothea Buck,
ISBN 978-3-88414-632-3. Bonn: Psychiatrie Verlag 2016. € 29.95 Peter Lehmann
Rahel Zurbrügg / Christian Burr / Peter Briggeler / Elsy B. Moser:
Sexualität und psychische Gesundheit Ein Manual für die Einzel- und
Gruppenarbeit mit Betroffenen und Fachpersonen
Rahel Zurbrügg (Psychiatriefachpflegerin, und Sexualpädagogin),
Christian Burr (Psychiatriepflegeexperte), Peter Briggeler (Sozialarbeiter
und Coach bei der Aids Hilfe im Bereich Sexualität) und Elsy B.
Moser (Expertin aus Erfahrung und EX-INlerin), allesamt aus der Schweiz,
haben eine Arbeitshilfe für psychiatrische Weiterbildungen sowie
Workshops mit Betroffenen verfasst. Damit können Sexualprobleme,
die mit psychischen Probleme verbunden sein können, leichter angesprochen
werden. Das Buch soll Profis ("Fachpersonen", wie sich Profis
in der Schweiz gerne voller Stolz bezeichnen) und Betroffenen Hemmungen
nehmen, über das Thema Sexualität zu reden und alles Weitere,
was damit verbunden ist: sei es HIV, Partnersuche, Verhütung, Rückzugsmöglichkeiten
in psychiatrischen Einrichtungen, Sexualprobleme u.v.m. Auch über
Sexualprobleme, die als Folge der Verabreichung von Psychopharmaka auftreten
können, und wie diese trotz Weitereinnahme der Substanzen und trotz
Weiterertragen der psychopharmakabedingten Hormonveränderungen
erträglicher gemacht werden können (darunter der zweifelhafte
Ratschlag, seine Psychopharmaka erst nach Vollzug des Sexualakts zu
schlucken als gäbe es nicht so etwas wie lange Wirkdauern
und Halbwertzeiten). Das Thema der Prolaktinerhöhung wird leider
ausgespart. Gemeint ist die erhöhte Konzentration des Hormons Prolaktin,
die für die Sexualstörungen unter Psychopharmaka verantwortlich
ist und zu Geschwulstbildungen in den Brustdrüsen und der Hirnanhangdrüse
führen kann. Dieser Mangel im Buch ist ebenso wenig nachvollziehbar
wie sein exorbitanter Preis. Rezension
im BPE-Rundbrief. Kartoniert, 144 Seiten, ISBN 978-3-88414-628-6.
Köln: Psychiatrie Verlag 2017. € 29.95 Peter Lehmann
Hier gelangen Sie direkt zu den Autorinnen und Autoren bzw. Herausgeberinnen
und Herausgebern, deren Namen mit den Buchstaben A
C | D
F | G
K | L
O | P
T beginnen. Zurück zu
A Z