|
zurück
zu Mitgift
Kerstin Kempker
Mitgift Notizen vom Verschwinden
Rezensionen
Rezension von Irene Stratenwerth: Die Entdeckung
des Eigensinns
in: Brückenschlag Zeitschrift für Sozialpsychiatrie,
Literatur & Kunst, Band 17 (2001), S. 247-248
»Volljährig werden auf der Geschlossenen und drei Jahre in
bodenloser Ferne von dem, was vorher war, und allem, was noch folgen konnte.«
So fasst Kerstin Kempker auf der ersten Seite zusammen, wovon sie erzählen
wird. Der Peter-Lehmann-Verlag bewirbt diesen Bericht als »das schönste
Buch der Antipsychiatrie«. Um es vorweg zu nehmen: das ist keineswegs
übertrieben. Kerstin Kempker ist ein aufwühlendes Dokument,
ein präzises Protokoll und zugleich ein Roman von höchster literarischer
Qualität gelungen.
Aus einer Jugendkur im Allgäu wurde die störrische, unentwegt
schreibende Jugendliche vor 25 Jahren in die Psychiatrie eingewiesen.
Damit begann eine Behandlung, die sie innerhalb weniger Monate zerstörte:
Vollgestopft mit Psychopharmaka, gequält mit Elektro- und Insulinschocks,
schockiert auch vom ganz normalen Wahnsinn im Wachsaal einer Anstalt,
entwickelte sich das junge Mädchen zu einem aufgeschwemmten, verstörten
Wrack mit einem Anfallsleiden. Über Jahre sollte sich ihr Lebenswille
nur noch in einer Form äußern: Dem Versuch sich umzubringen.
Sie durchläuft verschiedenste psychiatrische »Angebote«
der Anstaltspsychiatrie folgt das morbid-psychotherapeutische Ambiente
des Nervensanatoriums »Bellevue« in der Schweiz und schließlich
das sozialpsychiatrisch reformierte Häcklingen. Kerstin Kempker,
so scheint es, gesundet schließlich nicht durch irgendeine Form
psychiatrischer Hilfe, sondern trotz der Psychiatrie. Sie beginnt wieder
zu schreiben, erschreibt sich ein eigenes Leben.
Immer hofft man beim Lesen, dass diese Leidensgeschichte in ihrer Dramatik
ein Einzelfall gewesen sein möge. Doch widersteht Kerstin Kempker
der Versuchung, einen anklägerischen Skandalbericht abzuliefern.
Sie erzählt ihre Geschichte in so gnadenloser Wahrhaftigkeit, dass
gelegentlich sogar Mitgefühl mit denjenigen aufkommt, die sie von
Berufs wegen zu betreuen und beaufsichtigen haben. Und auch die Schilderung
ihrer tristen Kindheits- und Familiengeschichte gelingt ihr ohne Denunziation:
Wer die Fünfziger und sechziger Jahre in Deutschland erlebt hat,
wird darin beklemmend Vertrautes finden.
Man hätte gern noch erfahren, wie das Wunder möglich wurde:
dass aus diesem todessehnsüchtigen Ekelpaket, als das sie sich am
Tiefpunkt ihrer Psychiatrisierung selbst empfand, innerhalb weniger Jahre
wieder eine belastbare junge Frau wurde, die zwei Töchter großzog,
studierte, sich in der Antipsychiatriebewegung engagiert und das Berliner
»Weglaufhaus« mit aufbaute. Doch Kerstin Kempker behält
vieles für sich, im wahrsten Sinne des Wortes: und gerade deshalb
ist ihr Buch eine wunderbare Ermutigung zum Eigensinn.
Rezension von Linde Schmitz-Moormann (Münster)
im lichtblick-newsletter 2000
Die Geschichte einer Psychose wieder einmal? Ja, aber diesmal ganz
anders: Hier erzählt eine Autorin mit großem literarischen Talent
von ihrem dreijährigen Irrweg durch die Psychiatrie, in einprägsamen
Bildern, trocken, witzig, lakonisch, immer das System durchschauend, nie
larmoyant-anklagend, immer berichtend, beim Namen nennend. Der Leser ist
von der ersten bis zur letzten Seite fasziniert, erfährt ein Stück
Psychiatriegeschichte, möchte mehr wissen, geht ein Bündnis mit
dem Opfer ein. Halt, nein: es gibt kein Opfer, das seine Befindlichkeiten
beklagt, vielmehr eine Kämpferin, ein lebendiger Mensch mit großen
Kraftreserven. Und wenn sie im ungleichen Kampf zwischen David und Goliath
Fallen stellt und das kann sie gut hat sie allemal den Leser
auf ihrer Seite.
Mehr als in jedem Lehrbuch erfährt man bei Kerstin Kempker über
psychiatrische Lehrmeinungen, zerstörerische Institutionen, fragwürdige
Diagnosen und Therapien und hilfslose Helfer.
Rezension von Ilse Eichenbrenner: Operation
am offenen Herzen
in: Soziale Psychiatrie, 24. Jg. (2000), Nr. 3, S. 54
Dieses Buch hat mich irritiert und verstört. Das kommt davon, wenn
die Schubladen zu früh geschlossen werden. Ein Buch von Kerstin Kempker,
der Herausgeberin des wunderbaren Weglaufhaus-Buches, erschienen im Antipsychiatrieverlag,
das konnte nur brennende, wütende Propaganda sein. In drei Stunden
war das zunächst spröde wirkende Buch ausgelesen, und meine
Schubladen mussten neu sortiert werden.
Sie beschreibt ihre enge, katholische Kindheit in Wuppertal und Mainz.
Kerstin liest viel, sie schreibt viel, sie redet wenig. Sie ist ein schwieriges
Mädchen eine Kur im Allgäu soll ihr guttun. Sie will
vorzeitig abbrechen, gibt der Erzieherin ihr Tagebuch: »Da stehe
alles. Sie nimmt es und geht. Es wird eine lange Nacht für mich,
weil ich nicht schreiben kann. Und für sie, weil sie noch in der
Nacht ihre Chefin und den Hausarzt alarmiert. Sie nehmen meine mehr allgemeinen
als persönlichen Gedanken zu Sinn und Unsinn dieses Lebens, meine
eher theoretischen Erwägungen der Fluchtwege als bare Münze.
Sie kennen meine Freunde Camus, Kafka und Bernhard nicht und nicht die
Befreiung, die ein zu Papier gebrachter und zu Ende gedachter Gedanke
bringt.«
Kerstin Kempker wird im Alter von 17 Jahren in die Mainzer Uniklinik
gebracht. Dies ist der Beginn einer dreijährigen Tortur: hilflose
Insulin- und Pharmaka-Therapie in Mainz, ratlose Psycho- und Soziotherapie
im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen (Binswanger!), und ein letzter,
vollends sinnlos erscheinender Aufenthalt in Häcklingen. Danach:
eigene Wohnung, Ausbildung, Kinder und Studium der Sozialarbeit. Fast
zwanzig Jahre später recherchiert sie ihre Psychiatrisierung, erhält
Einblick in ihre Krankengeschichte, kopiert sie, eignet sie sich an.
Warum verstört dieses Buch so? Kerstin Kempker vermeidet Diagnosen,
psychodynamische Erklärungsversuche, Schuldzuweisungen. Sie zitiert
die Terminologie der Ärzte und Therapeuten, übernimmt sie aber
nicht. In einer stark verdichteten, enorm poetischen Sprache beschreibt
sie die Ambivalenz der Heranwachsenden, ihre Sehnsucht nach Nähe,
Vertrauen, Rettung. Dabei schont sie sich nicht. Ihre Aufenthalte sind
fast ausschließlich freiwillig, sie provoziert, appelliert, balanciert
auf allen Grenzen. So dies ist die erschreckende Erkenntnis
hätte es uns auch ergehen können. Mit etwas Glück sind
wir nicht psychotisch geworden. Aber wie viel mehr Glück hatten wir,
ohne dieses tödliche Schlingern (und seine klinische Kasernierung)
erwachsen werden zu können.
Vor Beginn der Lektüre dieses Buches ging ich gewissermaßen
in Deckung, Schläge aus einer ganz bestimmten Richtung erwartend.
So war ich an den falschen Stellen ungeschützt. Psychiatrie
das ist eben nicht nur Zwangseinweisung und Fesseln und Abspritzen. Psychiatrie
ist auch die jahrelange Therapiesitzung, fesselnde Zuwendung, fürsorgliche
»Auflockerung« durch Insulin und Psychopharmaka.
»Mitgift« unterscheidet sich von anderen Erfahrungsberichten
durch die formale Konsequenz; verflochten und doch klar zu erkennen sind
die drei Stränge: Auszüge aus Epikrisen, Tagebuchnotizen, Rückschau.
Keine geschwätzige Larmoyanz sondern poetisches Konzentrat.
Kerstin Kempker hat am eigenen, offenen Herzen operiert und dabei kein
einziges Mal gezuckt.
Rezension in Forum Sozial
in Forum Sozial Zeitschrift des Deutschen Berufsverbands für
Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Heilpädagogik e.V., 2002, Heft
1, S. 37-38
Mittlerweile gibt es in Deutschland auch eine gut organisierte Betroffenenbewegung
in der Psychiatrie. Mit der Flucht in die Wirklichkeit liegt ein
spannend zu lesender Erfahrungsbericht über psychiatriekritische
Ansätze der Selbsthilfebewegung vor. Beschrieben wird sehr eindrucksvoll
der lange Weg gegen alle institutionellen Widerstände, mit dem sogenannten
Berliner Weglaufhaus ein sicheres Psychiatrieasyl jenseits der herkömmlichen
Psychiatrie zu schaffen. Dieses Buch dokumentiert sehr drastisch eine
antipsychiatrische Wirklichkeit jenseits von Haldol und BAT-Sozialarbeit.
(Ae)
Rezension von Marc Rufer: Aus der Klinik
herausgeschrieben Die Autobiographie der Psychiatriepatientin Kerstin
Kempker
in: Wochenzeitung (Schweiz), Nr. 47, 23. November 2000, S. 24
«Mitgift, Notizen vom Verschwinden», ein ehrliches Buch, ein
mutiges Buch, ein poetisches, brillant geschriebenes Buch, ein packendes
Buch. Es zeigt die Abgründe der Psychiatrie in schonungsloser Offenheit,
es zeigt, dass die biologische Psychiatrie ihr Arsenal, Neuroleptika,
Insulin- und Elektroschock hemmungslos einsetzt, wann immer sie dazu die
Gelegenheit hat. Und diese Behandlung macht aus Kerstin Kempker, der verzweifelten,
17jährigen Jugendlichen, ein «aufgedunsenes, hässliches,
pickelbedecktes Monster, das sich nur langsam bewegt, dem der Speichel
aus dem Mund lauft und dessen Finger zu unbeweglichen Würsten mutiert
sind». Parallel dazu wurde binnen weniger Wochen aus der ursprünglichen
Diagnose «krisenhafte Pubertätsentwicklung» eine «endogene
Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis».
«Ich möchte beschreiben, wie Psychiatrie, wenn nicht tot,
so doch verrückt macht.» Dies ist der Autorin überzeugend
gelungen: Nur die, der es schlecht geht, ist eine «gute» Patientin.
«Schlechter als mir geht's keinem. Ich kann es besonders schlimm.»
«Ihr habt Angst um mich? Was gibt es Schöneres?» «Wir
spielen das Psychiatriespiel, gewinnen kann es keiner. Es ist eine neue
Sprache, die ich gelernt habe.» Ja, in der Psychiatrie lernen die
Patientinnen viel, sie lernen vor allem, was es heisst krank zu sein,
krank, verrückt, psychotisch, schizophren, suizidal. Ein verheerender
Unterricht. Viele prägt dieser Stoff unwiderruflich für ihr
verbleibendes Leben. Erlernte Hilflosigkeit.
Auch in Kerstin reifte als Folge der Hospitalisierungen und Behandlungen
die Überzeugung, man müsse ihr helfen. Äusserst schwierig,
von diesem Glauben loszukommen, er macht hilflos, invalidisiert und chronifiziert.
Doch nicht nur das: Klar wird auch, dass die Psychiatrie Tote produziert,
Tote in grosser Zahl. «Dying is an art, like everything else. I do
it exceptionally well.» Dieser Satz von Sylvia Plath war im Laufe
der Hospitalisationen zum Motto von Kerstin Kempker geworden. Die Autorin
hatte Glück, trotz mehrerer teils schwerer Suizidversuche blieb sie
am Leben und handelte sich keine bleibenden Schädigungen ein. Ganz
anders ihre «MitpatientInnen» Viele brachten sich um.
Für Kerstin Kempker wurde klar, Hilfe gibt es hier keine. Sie beginnt
wieder zu schreiben. «Die Toten, über die hier so leicht hinweggegangen
wird, lassen mich nicht los. So makaber es klingt, sie sind es, die mich
am Leben halten.» «Beim Schreiben finden meine Gedanken Buchstaben
und kommen endlich einmal an die Luft.» Sie schreibt sich raus aus
der Psychiatrie. Vieles ist dokumentiert in ihrem Buch, Texte, Träume,
Gedichte (und auch ausdrucksstarke Zeichnungen) von damals, Briefe an
ihr Phantom, einen Schweizer Schriftsteller; ihm schreibt sie die Briefe,
die für alle anderen zu rücksichtslos und unvorsichtig wären.
Doch schreiben kann auch verhängnisvoll sein. Ihr Tagebuch brachte
die Autorin in die Psychiatrie. Die Betreuerin eines Heimes im Allgäu,
wo Kerstin zur Kur weilte, ist überfordert von seinem Inhalt. Sie
alarmiert den Hausarzt: «Sie kennen meine Freunde Camus, Kafka und
Bernhard nicht und nicht die Befreiung, die ein zu Papier gebrachter und
zu Ende gedachter Gedanke bringt. Man muss ihn dann nicht mehr denken,
nicht mehr so.» Grund zur ersten Einweisung war also nicht in erster
Linie das Verhalten von Kerstin, sondern ihr Tagebuch. Und das ist keineswegs
aussergewöhnlich. All diejenigen, die sich auf irgendeine Weise am
Rande der Gesellschaft bewegen, seien deshalb dringend davor gewarnt,
die Geheimnisse ihres Innenlebens an Menschen, denen sie nicht restlos
vertrauen, weiterzugeben.
Etwas mehr als drei Jahre lang war Kerstin Kempker in drei verschiedenen
Kliniken (darunter auch das Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen) psychiatrisch
hospitalisiert. Drei verlorene oder besser gestohlene Jahre bis kurz vor
ihrem 21. Geburtstag.
Doch auch was folgte, war äusserst schwierig und beschwerlich.
Nur langsam schaffte sie es, wieder Fuss zu fassen in der Welt der Normalen,
fand erst im Laufe der Zeit einen Weg, der zu ihr passte: Abitur, Jobs,
zwei Kinder, Studium der Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Autorin
und Ko-Autorin von verschiedenen lesenswerten Büchern und Mitarbeiterin
im bekannten Weglaufhaus in Berlin. So verstrichen nach ihrer Entlassung
zwanzig Jahre, bis Kerstin Kempker fähig war, «die schwarze
Kiste zu öffnen», das Buch «Mitgift» zu schreiben,
in dem neben ihrer Zeit in der Psychiatrie auch ihre Jugend in einer Beamtenfamilie
mit dem autoritären Vater und der strenggläubigen Mutter dargestellt
ist.
Das Buch ist fair. Es ist keine Anklageschrift, es beschreibt und dokumentiert.
Kerstin Kempker rechnet nicht ab, die Psychiatrie entlarvt sich selbst:
nicht zuletzt in den vielen Auszügen aus den teils entwendeten Klinikakten
bis heute tut sich die Psychiatrie bekanntlich schwer damit, den
Betroffenen ihre Akten herauszugeben.
Wer Kerstin Kempker heute kennen lernt, kommt nie und nimmer auf die
Vermutung, dass sie diese schweren Zeiten in der Psychiatrie durchgemacht
hat. So zeigt dieses Buch einerseits, wie leicht und unverhofft jeder
in der Psychiatrie landen kann, andererseits bedeutet es eine riesengrosse
Hoffnung für viele. Jede und jeder kann es schaffen. Niemand ist
so verrückt, dass der Weg endgültig raus aus der Psychiatrie
für ihn als unmöglich bezeichnet werden muss. Was es braucht
dazu, ist Mut und den Willen, nicht unterzugehen. Kerstin Kempker hatte
beides und auch das nötige Glück, zum Glück.
Rezension von Wolfram Pfreundschuh: Auf
dem Boden der Angst Der ungewöhnliche Bericht einer Befreiung
aus der Psychiatrie
in: Tagesspiegel (Berlin) vom 15. Oktober 2000, S. W5 ; und
in: BPE-Mitgliederrundbrief Nr. 3 / 2000, S. 16-17
Kerstin Kempker hat mehr als drei Jahre, drei sehr junge Jahre, in der
Psychiatrie zugebracht. In ihrem mutigen Bericht mit dem Titel »Mitgift«
geht es um Leben und um Zerstörung, um das Verschwinden des Selbst
und um das Zurückfinden aus dem Nirgends. Ohne moralische Wertungen
zeigt sie das pure Geschehen vor Ort und öffnet den Blick für
die fast automatische Abwicklung einer fatalen Logik, welche mit der Diagnose,
der Festschreibung einer »Krankheit« einsetzt.
Kempker beschreibt ihre Kindheit, Familie und Schule, die Erziehung,
die Fürsorge und die Bestimmung, welche diese Lebenswelt ausgemacht
hat. Es ist die Welt ihrer Eltern, die eine Angst auslöst, deren
Grund verborgen bleibt. Auf dem Boden dieser Angst wachsen Kinder auf,
sie versuchen Sinn zu konstruieren, auch dort, wo Irrsinn herrscht. »Kinder
sind zur Rettung der Eltern da«, hatte Franz Kafka einmal formuliert:
Kerstin Kempker zitiert ihn bewusst. Widersinn in einer Familie erzeugt
Scheinwelten und Unwägbarkeiten, verdrängt in einem lähmenden
Alltag. Für das Mädchen Kerstin ist die Kindheit eine einzige
Agonie. Zu ihrem eigenen Schutz wird eine fortwährende Selbstverleugnung,
der Rückzug in sich selbst. An einer katholischen Mädchenschule
erfährt die Schülerin die Gewalt jener höheren Ordnung,
die Disziplin einer Weltherrschaft, die »IHM« zu Ehren und zu
Diensten sein muss. Religion, Kirche soll binden. Doch die geforderte
seelische Unterwerfung misslingt. Kerstin hasst dies alles, was sie lieben
soll. Trotzig setzt sie sich, doch auf Kosten ihrer selbst. So wird das
rituelle Fasten zum Hungern, der Ritus zum Protest. »Die Nonnen«,
schreibt sie, »haben mich mehr gelehrt, als sie wollten.«
Sie beginnt, sich zu verschließen, Sie schreibt. Das Tagebuch
wird zum Dokument düsterer Gedanken. Die Protagonisten der Welt,
ihre Lehrerinnen, verhalten sich ihr gegenüber immer absurder. Irgendwann
gibt sie einer Betreuerin den Text. Darin stehe alles. Sie soll es lesen.
Und sie liest.
Mit diesem Augenblick beginnt die Mühle mahlen, die das Mädchen
Kerstin fast zerreiben wird. Für die Betreuerin ist die Siebzehnjährige
über Nacht ein pädagogischer Fall, für ihre Chefin ein
medizinischer, für den Hausarzt ein psychiatrischer. Tatsächlich
wird sie in die Psychiatrie mit der Diagnose einer »krisenhaften
Pubertätsentwicklung« aufgenommen, vier Wochen später hat
man schließlich »progrediente psychiatrische Auffälligkeiten«
entdeckt, weil sich die »negativistische Haltung der Patientin verstärkt«
habe. Ein Krankenbericht begründet das unter anderem damit, dass
die Patientin ihr Frühstück verweigert. Schließlich lautet
die Diagnose auf »Endogene Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis«.
Gnadenlos wirkt die Logik der psychischen Diagnose. Sichtbare Verletzungen
gibt es nicht, so wird der Mensch selbst zur Krankheit. Kerstin Kempker
erfährt das ganze Arsenal psychiatrischer Heilkunst Neuroleptika,
Insulinschocks, Elektroschocks. Die Eltern, denen es unerträglich
wird zuzusehen, sehen sich nach Alternativen zur »klassischen Psychiatrie«
um. So gerät die Tochter, als Patientin aus besserem Hause, in die
Binswangersche Therapie in der Schweiz, in ein Sanatorium. Dort gibt es
zwar keine offenen Disziplinierungen, dafür aber wieder Behandlung
mit Neuroleptika. In einer abgelegenen Villa soll die Sinnfindung durch
eine therapeutische Gruppe hilfsbereiter Menschen stattfinden. Aber Kerstin
Kempker fürchtet, dass sie hier nicht mehr wegkommt. Denn hier sind
»alle Stunden des Tages therapeutisch gestaltet« (Binswanger-Werbung),
und die pausenlose Verständigkeit droht ihr den letzten eigenen Boden,
die Abgrenzung, unmöglich zu machen. All das, was beziehungsfähig
macht. In dieser schönen Alpenwelt denkt sie ans Sterben. Kein offenes
Fenster, keine Tabletten dürfen für sie erreichbar sein. Sie
sorgen sich hier wirklich sehr. Und die junge Frau beherrscht das Spiel
mit ihrer Sorge: »So gut wie Ihr seid, so böse werde ich nie.
Wir spielen das Psychiatriespiel, gewinnen kann es keiner. Es ist eine
neue Sprache, die ich gelernt habe.«
Zwei Jahre später wird sie in eine norddeutsche Sozialpsychiatrie
verlegt, eine moderne Psychiatrie. Wer das veranlasst hatte, weiß
sie nicht. Betreuer, Therapeuten sind aufgeklärt und erfahren. Aber
auch belastet mit wissenschaftlicher Forschung, Besprechungen und Konferenzen.
Sie haben wenig Zeit, sind überfordert und scheuen deshalb den direkten
Kontakt. In der Verhaltenstherapie geht es liberal zu. Und hauptsächlich
wird gemeinsam geplant, gearbeitet irgend etwas. Das Zusammenrechen
von Laub mitten im Herbstwald kommt der Patientin sinnlos vor, ihr Dasein
scheint ihr überflüssig. Doch die offene Form dieser Klinik
hat ihre Vorteile: Kerstin gelangt an eine Schreibmaschine und bringt
ihre Gedanken, ihren Hass und ihre Verzweiflung zu Papier. »Ich schreibe
mich aus der Anstalt heraus.«
Das ist ihr Weg. Sie studiert die eigenen Krankenakten und arbeitet
auf. Sie findet ihre Sprache, auch mitunter eine literarische. Sie fotografiert,
sie teilt sich mit. Ihre Pfade sind verrückt, voller Zweifel und
Erschrecken. Aber am Ende dieser Geschichte steht hart erkämpftes
Eigentum am eigenen Leben, eine große menschliche Leistung.
Kerstin Kempkers Beschreibung verlorener Jahre klagt nicht an. Sie zeigt,
wie es sein kann, dieses Gefängnis eines psychiatrischen Krankheitsbegriffs
und seiner Mittel und Methoden. Ihrem Buch geht es nicht um die Frage
des richtigen oder falschen Tuns, der besseren oder schlechteren Hilfe.
Es geht überhaupt nicht um Fragen und Probleme der Helfer und Experten,
und ihr Text hat auch nicht den Duktus einer »Expertin in eigener
Sache«.
»Mitgift« ist ein wichtiges Buch und ein schönes, Literatur
und Dokumentation in einem. Es ist ein Buch, das Hoffnung macht
auf eine menschliche Befreiung aus Ohnmacht und Verzweiflung.
Rezension von Theodor Itten: Feuchte Augen
in der Psychiatrie
in: pro mente sana aktuell (Schweiz), 2000, Nr. 4, S. 30-31
Haben Sie den Film »Durchgeknallt« (Girl, Interrupted) von
James Mangold, mit Winona Ryder und Angelina Jolie in den Hauptrollen,
auch gesehen? Beide Hauptfiguren erleben auf verschiedene Art und Weise
in der amerikanischen Psychiatrie der ausgehenden 60er Jahre Seelenterror
pur. Hier ist ein neues deutsches Buch zu diesem Filmthema. Als Vietnam
mit Giftbombenangriffen von den Amerikanern zerstört wurde, war das
jugendliche aufkeimende Leben von Kerstin Kempker, geb. 1958 in Wuppertal,
auch mit Gift bedroht. »Ich will mit euch ins Nichts gucken«,
schreibt sie. Uns über das eigene Verschwinden in den persönlichen
Gedanken informieren, »über die Bedeutung und die Last der Wörter
und darüber, wie die Psychiatrie«, die sie als Patientin erlebt
und heute als Fachfrau bestens kennt, »sie mit Gift, Strom, Vernebelung
und Kälte auslöschen« wollte.
Kempker gliedert ihr viertes Buch in drei gleichwertige Teile. Erstens:Vorher,
wo sie die Lebenssituation zu Hause, in einer, aus dem Nichts durch intensives
Arbeiten hochgekommen Beamtenfamilie, beschreibt. Im Herbst 1968 kommt
die Autorin termingerecht aufs Gymnasium. Sie fängt an zu schreiben
und zu schweigen. Was sie dabei sucht, ist eine Verständigung mit
ihrer, uns allen wohlbekannten, schwierigen Lebensphase auf der Schwelle
zwischen Kindheit und Erwachsenwerdung. »Ich erwarte aufrichtiges
Mitleid und praktische Hilfe. Es gibt ratlose Blicke und halbherzige Angebote«.
Eines dieser Angebote ist, eine Psychotherapeutin zu besuchen. Diese jedoch
verweist sie an einen Psychiater. Da bockt sie, »ich bin doch nichtverrückt.«
Aus der erhofften Psychotherapie wird nichts. Sie bekommt, von einer,
zusammen mit der Mutter besuchten Psychiaterin, eine Kur im Allgäu
verschrieben
Aber da, fühlt sie sich am falschen Ort, in der falschen Menschenherde.
Die Erwachsenen um sie herum, Eltern, LehrerInnen, BetreuerInnen merken
es nicht. Als Flügelanker in diesem aufbrausenden seelischen Sturm,
erweist sich ihr Tagebuch, in das sie im Bett, bei Taschenlampenlicht,
ihre »düsteren Gedanken« notiert. Die Kur ist für
sie nicht das, was sie braucht. Sie will die Heimreise antreten, und sagt
einer Betreuerin, »dass ich es nicht mehr aushalte, dass das Kurprogramm
mir mehr schade als nütze, und mich nur noch tiefer in mein eigenes
Loch stürze.« Um dies zu beweisen, nimmt das Mädchen sein
Tagebuch, aus dem bereits reisefertigen Koffer, und sagt: »Da steht
alles« Die angesprochene Betreuerin nimmt es und geht damit zur Chefin,
die informiert den Hausarzt, der alarmiert die Psychiatrie in Mainz, ein
Bett in der Uniklinik für Psychotherapie wird für Kerstin reserviert.
Die Mutter wird gebeten, ihre Tochter abzuholen. Vom 3.12.1975 - 12.2.1979
wird sie nun eine sogenannte psychiatrische Patientin/Insassin.
Im zweiten Teil, ihres autobiographischen Berichtes; Anstalten,
gibt Kempker uns intime Einblicke in Ihr versinkendes junges Leben in
der Mainzer Uniklinik, (bei Professor Peters), dem Sanatorium Bellevue
i in Kreuzlingen, (Prof. Binswanger) und zuletzt die Sozialpsychiatrie
in Häcklingen (Prof. Niels Pörksen).
»Sie spritzen mir täglich Insulin und legen damit eine verhängnisvolle
Fährte. Sie legen mir enge Zügel an und wollen mich gleichzeitig
mit Insulin auflockern« Eine klassische Beziehungsfalle, dieser Doppelknoten.
Wie sinnlos grenzenlos und grenzenlos sinnlos. Als Kempker Prof. Peters
bei einer Krankenvisite fragt:»Warum bin ich in der Psychiatrie?«
antwortet er:»Sie wissen es ja selbst. Sie sind schizophren.«
Ist das eine sinnvolle Antwort ? Wir müssen tief Luft holen bei dieser
stigmatisierenden Diagnose, die den Ärzten eine Struktur gibt, und
Verzweiflung und Aufruhr der PatientInnen besiegelt. Das ist kein Einzelfall,
es ist die Norm.
In der Folge wird sie mit Neuroleptika, Antidepressiva, Antiparkinson-
und Kreislaufmittel, und tägliche Insulin-Injektionen behandelt.
Die Behandlung seelisch Leidender ist so wie wir sie behandeln, und nicht
anders. Kerstin nimmt an Gewicht zu (unerwünschte Wirkung der Medikamente),
verstummt nach aussen immer mehr, und wird gegen innen, zur Seele hin
immer verwirrter, durch das, was diese Menschen in diesen Institutionen
mit ihr tun. Als sie dann noch Elektroschock bekommt, will sie nicht mehr
leben. Kempker zeigt in der weiteren, feinfühligen Textfolge, indem
sie ihre eigenen Tagebucheinträge von damals, mit der, von ihr mühsam
erworbenen Krankengeschichten und die heutige, durch professionelle erworbene,
distanzierte Aussensicht miteinander, wie unverständlich dieses psychiatrische
System, heute, wie auch damals, für sie ist.
Für uns in der Deutschschweiz Lebende, ist ihr Erfahrungsbericht,
ihrer therapeutischen Behandlung im Sanatorium Bellevue (die Gebäude
wurden im November 1989 abgerissen), welches von der grossen Ärztefamilie
Binswanger, über mehrere Generationen erfolgreich geleitet wurde,
und ein wichtiger Teil der innovativen Schweizer Psychiatrie verkörperte,
ein Augenöffner vom Seeleninnern her. In Kreuzlingen geht es ihr
schlechter als keiner anderen. Sie wird zum schwierigsten Fall. »Ich
werfe euch die Kontrolle zu, gebe euch mein Leben in Verwahrung, ein Pfand,
was ist es wert?« Sie testet die Glaubwürdigkeit der Pflegenden
und misstraut ihren Sprüchen. Sie merkt, »wir spielen das Psychiatriespiel,
gewinnen kann es keiner«, in der daseinsanalytisch geprägten
therapeutischen Gemeinschaft. Als die deutsche Krankenkasse nicht mehr
die 200 Sfr. pro Tag bezahlen will, wird eine Verlegung in die Modellklinik
für gemeindenahe Versorgung in Häcklingen vollzogen. Auch dort
erlebt sie, wie trotz Verhaltenstherapie und sozialpädagogischem
Ansatz, ihre gesamte Lebenssituation sich nicht verbessert.
Ihre Gedanken kann sie nicht in Ruhe äussern, ohne dass diese und
sie sofort pathologisiert werden. MitbewohnerInnen dieser sozialpsychiatrischen
Einrichtung zünden sich an, oder versuchen, mittels einer Überdosis
von Schlaftabletten, aus diesem, für sie unerträglichen Leben,
wegzugehen. »Ich sammle die Toten, und ich entwickle einen sehr vitalen
Hass.«
Mit dem, vom Vater zu einer Weihnachten geschenkten Fotoapparat, beginnt
Kerstin ihre nahe und ferne Lebensumgebung abzulichten. Viele der damals
entstandenen Bilder sind, zusammen mit Zeichnungen aus ihrer Hand, im
sorgfältig gestalteten Buch, enthalten. Der dritte Abschnitt, Nachher
geht der Frage nach: Was suchte ich, als ich in die Psychiatrie ging oder
kam? Was wollte ich bekommen? Was für eine Biographie, was für
ein Lebensentwurf passt zu mir? Um den aufkommenden Gedanken und Gefühlen
Form zu geben, schreibt sie viele intensive Briefe um so in ihre Zukunft
hineinzukommen. Ihre Wörterschiffe tragen sie in die Zukunft, stranden
an neuen Ufern. Achtsam bewegt sie sich »draussen« unter Menschen
ist. Wenn ich schon auf der Welt bin, will ich auch in ihr sein. Sie beginnt
freier zu atmen, geht in eine ambulante Psychotherapie. Luft und Leben
kriegen ist elementar. »Nichts ist erfunden, auch wenn nicht alles
gesagt ist. Es ist keine Reise durch den Wahnsinn (ein Buch
von Mary Barnes und Joe Berke, 1971), eher eine Geister- und Achterbahnfahrt
in den Wahnsinn der Institution Psychiatrie, in die déformation
professionelle ebenso wie die Deformation der Diagnostizierten, durch
die Untiefen verschiedener psychiatrischen Schulen, kopfüber in eine
leergefegte Existenz«.
Heute arbeitet die Autorin, Dipl.-Sozialpädagogin und Mutter von
zwei Töchtern, im Berliner Weglaufhaus, über das sie schon publiziert
hat (Flucht in die Wirklichkeit, 1998). Kerstin Kempkers Mut, so offen
und direkt aus ihrer verletzten Vergangenheit zu schreiben ist für
uns alle, die zum Teil die Reformbewegung der Psychiatrie der 60er und
70er Jahren miterlebt haben, und solche die sie nur vom Hörensagen
kennen, überaus wertvoll. Für alle sonst an dem Thema Interessierten
ist dieses Buch ein »Denk-Mal« zum Luft- und Kraftholen für
den eigenen Widerstand sich nicht ausgrenzen und stigmatisieren zu lassen.
(...)
Rezension von Benjamin Sage: Jugend als psychiatrisierter
Albtraum
in: FAPI-Nachrichten, 5. März 2007
Wenn die Kindheit sich überlebt hat und sich unvermutet unendliche
Räume dort öffnen, wo vorher unumstößliche Autoritäten
ebenso festgefügte Raster und Normen aufgestellt hatten, nimmt das
Abenteuer Leben mit ungeahnter Kraft an Fahrt auf. Kerstin Kempker erzählt
mit viel Verve und überraschend fesselnd, wie das Abenteuer ihrer
Jugend zu einem nicht enden wollenden Albtraum wurde. Eine unglaubliche
Irrfahrt durch unterschiedliche psychiatrische Einrichtungen, Therapiekonzepte,
Behandlungsmethoden, Krankheitszuschreibungen. Mit viel Sensibilität
berichtet diese Autobiographie von der Sprachlosigkeit einer vergifteten
Jugend, von der Sprachlosigkeit der Helfer und wie sie schließlich
diesen Albtraum losgeworden ist.
Ein spannendes und zugleich tiefes Buch, das ohne billige Schuldzuweisung
auskommt.
zurück
zu Mitgift
|